Terror: Thriller (German Edition)
Regeln nicht befolgen, ganz sicher nicht. Aber das durfte er Kersting nicht sagen.
»Sind Sie damit einverstanden?«, fragte Kersting.
»Ja«, sagte Marc, »ich versuche, um 19:30 Uhr bei Ihnen zu sein.«
Im Wald zwischen Pieve und Lenzari,
Freitag, 4. Juni 2010, 20:35 Uhr
Er schrie nicht mehr. Aber er atmete noch. Manchmal stöhnte er leise, und dann schwappte ihm Blut aus dem Mund.
Carla kniete neben ihm und hielt mit beiden Händen den Stock umklammert. Sie war erschöpft. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie auf den Mann eingeprügelt hatte. Irgendwann hatte sie keine Kraft mehr gehabt und aufgegeben. Sie war schweißgebadet.
Wenigstens schreit er nicht mehr.
Rechts, an der Wand neben dem Eingang, kauerte Anna. Sie hatte die Knie bis ans Kinn hochgezogen. Ihr Gesicht war hinter dem Vorhang aus Haaren nicht zu sehen. Sie hielt die dreibeinige Kreatur mit dem verkrümmten Rücken und dem riesigen Kopf in der Hand und ließ sie vom linken Knie zum rechten hüpfen. Und zurück.
Hin und her.
Hin und her.
Hin und her.
Der Mann röchelte und spuckte Blut. Eine rote Ferrari-Mütze lag mitten im Raum. Sie musste dem Mann gehören.
Und plötzlich entdeckte Carla die Blumen auf dem Fußboden. Es waren Wiesenblumen, Gräser, Schafgarbe. Der Mann musste sie in der Hand gehabt und fallen gelassen haben.
Carla stand auf. Ihr ganzer Körper schmerzte. Sie ging zu Anna hinüber und hockte sich vor sie hin. Anna reagierte nicht. Nur ihre Hand bewegte sich. Die deformierte Kreatur hüpfte noch immer von einem Knie zum nächsten und wieder zurück.
Carla legte Anna die Hand auf den Unterarm. Das Mädchen erstarrte.
»Wir müssen weiter, Anna.«
Aber Anna reagierte nicht. Sie wandte das Gesicht ab. Carla konnte nicht sagen, wo sie hinsah, ob sie überhaupt etwas wahrnahm. Ihr Blick war vollkommen leer.
Carla versuchte noch ein paarmal, Anna zu einer Reaktion zu bewegen – erfolglos. Schließlich richtete sie sich auf und atmete einen Moment lang tief durch. Dann ging sie wieder in die Knie, mit dem Rücken zu Anna diesmal. Sie griff nach hinten und legte sich Annas Arme über die Schultern, dann umfasste sie von außen die Oberschenkel des Mädchens. Sie stand auf. Anna hing wie ein nasser Sack auf ihrem Rücken.
Carla achtete darauf, keine der Blumen zu zertreten. Sie stieg über die Beine des am Boden liegenden Mannes und verließ das verfallene Haus.
Dann kam das Zittern. Es befiel ihren Körper und war nicht unter Kontrolle zu bekommen. Carla blieb stehen und wartete, bis es vorbei war.
Es war dunkel geworden. Carla hatte keine Ahnung, wie lange sie bereits unterwegs waren. Irgendwann hatte sie das Gefühl gehabt, Anna werde mit jedem Schritt schwerer. Aber dieses Stadium war längst überschritten. Sie spürte Annas Gewicht nicht mehr. Auch keine Schmerzen. Und auch ihren eigenen pfeifenden Atem nahm sie nicht wahr. Vor ihr war der Weg. Das allein war wichtig. Den durfte sie nicht aus den Augen verlieren.
Anfangs, kurz hinter dem verfallenen Haus, hatte noch ein paarmal das Handy geklingelt. Mehrmals das von Annas Vater und einmal auch ihres, aber jetzt herrschte Ruhe. Nur das Rascheln des Laubs unter ihren Füßen und das Knacken, wenn sie auf Zweige trat. Einmal musste sie ein größeres Tier aufgeschreckt haben. Es hatte gekracht und geknallt im Unterholz.
Und plötzlich war der Wald zu Ende. Carla bemerkte es erst, als sie bereits auf der freien Fläche stand, bloß noch in Nebel und Dunkelheit gehüllt, und sich wunderte, wo die ganzen Bäume geblieben waren. Sie stand auf einem Feld, und wenn sie nicht alles täuschte, konnte sie vor sich Straßenlaternen erkennen. Falls sie sich nicht völlig verirrt hatte, musste das Lenzari sein. Sonst gab es hier oben nichts. Sie musste die Kapelle am Ortsausgang finden. Dahinter würde Luca auf sie warten.
»Anna, wir haben es geschafft«, wollte sie sagen, aber aus ihrer Kehle kam nur ein Krächzen.
Anna reagierte nicht. Carla umfasste Annas Oberschenkel und hievte sie ein Stück höher. Dann setzte sie sich in Bewegung, auf die Laternen zu. Sie stapfte über ein Kartoffelfeld, wie sie jetzt bemerkte. Die Erde war tief, jeder Schritt beschwerlich. Links daneben wuchs Mangold. Jetzt konnte sie ein Haus erkennen. Sie bewegte sich auf einen Durchgang zu, der zwischen dem Haus und einem unbebauten, mit einem Zaun umgebenen Grundstück zur Straße hinunterzuführen schien. Endlich. Gleich hatten sie es …
Plötzlich stolperte sie über etwas. Sie verlor das
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