Terry - Geschichten aus dem Leichenhaus
vergessener Mantel.
Nach einer Weile kam sie mit »Our little Darling«, dem guten Kinderbrei, zurück.
Dabei sagte sie: „Heute hab ich gehört, dass wieder viele Menschen da draußen getötet worden sind. Man hat sie ermordet! So wie die Hexen und Zauberer in deinem Märchenbuch. Mein Gott, du weißt ja gar nicht, wie froh ich bin, dass du immer hier bist! Immer hier bei deiner Mami!“
„Mami, könnt es nicht sein, dass du auch mal getötet wirst?“
„Ich bin immer vorsichtig. Ich gucke mich beim Einkaufen jedes Mal um, bevor ich über die Straße gehe und rede mit niemandem! Ich kann doch meinen lieben kleinen Harold nicht alleine lassen.“ Mutter fuhr mit verächtlicher Miene fort, die Gefahren zu schildern, die Harold außerhalb der vier sicheren Wände drohen würden:
„Die Stadt hat neue Container aufgestellt. Neben denen für Papier und Flaschen gibt es zwei neue, beide in Schwarz. Du weißt ja, dass auf den Friedhöfen kein Platz mehr ist; und so gibt es jetzt schwarze Container, in denen man Verstorbene recyceln kann. Sie werden da einfach reingestopft. – Praktisch, nicht? Aber vor allem hat es mir Container zwei angetan: Nur für Penner steht darauf. Entsorgung erst ab 23 Uhr. So kann sich jeder Bürger diese verdammten Kakerlaken schnappen, betäuben und dort umweltgerecht unterbringen. Die Stadt spart dadurch unglaublich viel Geld, das sie dann besser in die Renovierung von Prachtstraßen investieren kann.“
„Und was ist, wenn die Penner wieder aufwachen?“ fragte das Kind.
Mutter verzog das Gesicht. „Sie wachen nicht wieder auf. Es gibt da so ein Gas, das man so vor 50 Jahren schon mal verwendet hat ... Und nachts stehe ich schon mal neben so einem schwarzen Container und höre mir die Schreie der Tippelbrüder an. Gar nicht schlecht, sage ich dir ...“
Sie drückte ihn fest an sich, und Harold japste nach Luft. Er bemerkte den Küchenmief an ihr und verzog das Gesicht. Dann weinte er unvermittelt. Mutter war heute sehr intensiv.
„Aber Liebling! An so einem Tag brauchst du doch nicht zu weinen. Nicht an deinem Tag!“
„Hat Harold einen Tag? Einen Harold-Tag?“
„Ja. Wie jedes Jahr. Deinen Geburtstag.“
In ihren harten Armen kam er sich immer vor, wie im Kinderbett, dessen Seitenstäbe langsam zur Mitte zugingen.
„Ach – hätt’ ich bald vergessen. Ich hab ja Geburtstag!“
„Ja! Geburtstag hat mein kleiner Harold-Schatz. Herzlichen Glückwunsch und Gottes Segen! Und möge uns nie irgendwas trennen. Gleich holt Mami den Geburtstagskuchen, und dann wird schön gefeiert.“
Ihm war gar nicht nach Feiern zumute. Zu vieles war noch ungeklärt. Vor allem die Sache mit den Mädchen ...
„Mami. In dem Maga-zin hab ich Mädchen gesehen. Schöne Mädchen. Ich habe mich sooo toll dabei gefühlt. So hab ich mich noch nie gefühlt, so toll.“
Stille.
Dann Kreischen aus der Küche – unartikulierte Wortsalven. Der schmierige Honigschatten fetzte in Richtung Harold.
„Du elendes Miststück! Ich will nichts mehr von dem Magazin hören! Nichts mehr! Verstehst du mich?!“ Sie packte Harold am Kragen seines Kinderwestchens und schlug ihm wie trunken einen nassen Waschlappen ins Gesicht. Immer und immer wieder.
Harold schrie und kreischte. Auf den Wangen verliefen rote Striemen wie nächtliche Highways.
Als Mutter nicht mehr schlagen konnte, warf sie sich auf den Boden.
Mit den letzten Kraftreserven trommelte sie auf den Teppich, die Fäuste geballt, als wolle sie eine Tür einschlagen. Die Zunge hing wie eine Schlange aus dem tropfenden Mund. Sie krächzte: „Das waren keine Mädchen. Das war der Teufel! Es gibt gar keine Mädchen! Es gibt nur den Teufel. Den Teuuufelll!“
Sie sackte erschöpft zusammen.
Mit Schmerzen, Tränen in den Augen, hockte Harold zitternd in der hintersten Ecke.
Er zitterte noch mehr, als sie auf ihn zugekrochen kam, wie ein verwundeter Vietnamsoldat. Keuchend erreichte sie ihn. Ihre langen Finger krochen wie Kaugummi über seine Knie.
„Mami! Tu Harold nichts! Harold will auch immer artig sein! Sein ganzes ... De... Leben ... Bitte nicht hauen!“
„Verzeih mir, mein Schatz. Oh, bitte. Verzeih deiner dummen, alten Mami. Bitte weine nicht mehr.“
So hockten sie eng umschlungen minutenlang da.
Harold würgte.
Nach einer Weile sagte er: „Mami, es ist ja alles wieder gut.“
„Danke. Danke, mein kleiner Liebling. Und jetzt hole ich schnell den Geburtstagskuchen, und dann machen wir es uns richtig gemütlich, ja?“
„Oh ja.
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