Tessa
Sie wackelt kurz mit den Zehen hin und her. Langsam versucht sie aufzustehen. Ein rasender Schmerz durchzuckt ihren Kopf, viele kleine Sternchen blitzen vor ihren Augen, und einen Moment hat sie Angst zu erblinden. Sie fasst sich an den Kopf und bleibt einige Sekunden reglos stehen, bis der Schmerz nachlässt. Vorsichtig öffnet sie wieder die Augen und sucht eine Möglichkeit zum Festhalten. Ihr ist schwindlig, und plötzlich merkt sie auch die Übelkeit, die von ihrem Magen aufsteigt. Hilflos schaut sie sich um, schnell geht sie ein paar Schritte, knickt in die Knie und übergibt sich in den stinkenden Mülleimer. Schweißperlen treten auf ihre Stirn. Sie würgt. Ihr Magen stülpt sich über, sie kotzt braune Flüssigkeit durch Mund und Nase. Der nächste Brechreiz überkommt sie. Bis der Magen leer ist. Erschöpft würgt sie nur noch. Tränen laufen ihre Wangen hinab. Sie legt ihre Stirn auf die kühlen Steinplatten. Und wimmert verzweifelt vor sich hin. Nie wieder will sie trinken, nie wieder Drogen nehmen, das schwört sie sich. Diesmal bestimmt.
Eine Modenschau im Kaufhaus des Westens. Tessa steht an eine Wand gelehnt und hält sich an ihrem Champagnerglas fest. Nur diesen einen Drink, sagt sie sich. Nur um sich wieder etwas besser zu fühlen. Ihre Knöchel treten weiß hervor, also versucht sie den Griff zu lockern, dabei schmerzen ihre Gelenke. Sie nimmt das Glas in die andere Hand, streckt die angespannten Finger durch und begutachtet mit einem flüchtigen Blick den abgeblätterten Lack auf ihren Fingernägeln. Fingerkuppen müssen ab, blitzt es durch ihre Gedanken, doch schnell verwirft sie diese schmerzhafte Vorstellung wieder. Aufgeregtes Stimmengewirr. Sie lässt die Hand sinken. Das normale Kaufhauslicht. Vorsichtig wischt sie sich mit den Fingern über die Haut, da sie sich plötzlich unsicher ist, ob sie ihr Make-up ordentlich aufgetragen hat. Alles musste plötzlich so schnell gehen. Nachdem sie es endlich nach Hause geschafft hatte, lag sie stundenlang ruhelos im Bett, doch der ersehnte erholsame Schlaf wollte nicht eintreten, also hat sie Charlotte angerufen, die sie kurze Zeit später abgeholt hat.
Nun steht Charlotte mit Tanner neben ihr, und wie funkelnde Schatten bewegen sie sich in ihrem Augenwinkel. Sie tuscheln leise lachend. Tessa versteht kein Wort, aber spürt die kritischen Blicke von Charlotte und vermeidet den Augenkontakt.
Ein schnelles Schlagzeug ertönt, eine elektrische Gitarre folgt. Das Publikum formiert sich raschelnd vor dem Laufsteg. Das erste Model kommt den Weg entlanggeschritten, und Tessa ist vor Eifersucht geblendet, sie kennt das Mädchen, es ist von ihrer Modelagentur. Sie selbst wurde nicht gebucht, nicht einmal zum Casting eingeladen. Sie ist schon lange nicht mehr angerufen worden. Ein Model nach dem Nächsten tritt hervor, eine schräge Geige ertönt ohrenbetäubend, und die älteren Damen halten sich entsetzt die Ohren zu. Tessa vergisst den Neid und kreischt vor Begeisterung laut auf. Ein paar Umstehende blicken sich verunsichert nach ihr um. Sie nippt schnell wieder an ihrem Champagner, doch das Glas ist leer. Sie betrachtet die Gesichter und die Körper der Mädchen auf dem Laufsteg und achtet kaum auf die Klamotten. Sie sieht sich nach einer der Hostessen um, die lautlos auf hohen Schuhen mit riesigen Moët-&-Chandon-Flaschen durch die Menge schreiten. Sie greift eines der Mädels beim Ärmel und lässt sich ihr Glas auffüllen.
Charlotte sieht sich nach ihr um.
»Was?«, fragt Tessa und verzieht ihr Gesicht zu einem schiefen Lächeln. Der Champagner tut gut. Die Trägheit verschwindet aus ihren Knochen.
Charlotte dreht sich wieder zum Laufsteg.
Direkt nach der Show hauen sie ab. Charlotte und Tanner laufen lachend im Regen zu Charlottes Wagen. Tessa folgt den beiden schweigend. Sie findet weder den Regen noch das Rennen lustig, außerdem fragt sie sich, warum Charlotte sie überhaupt gefragt hat, mit auf die Show zu kommen, wenn sie offensichtlich lieber den Abend alleine mit Tanner verbracht hätte. Kampflos quetscht sich Tessa auf die Rückbank, da sich Tanner wie selbstverständlich auf den Beifahrersitz gesetzt hat. Ihren Platz einnehmend. Tessa hält ihre Klappe und sieht gedankenverloren aus dem Fenster hinaus. Der Regen prasselt gegen die Scheibe, und das Geräusch, durch Pfützen zu fahren, beruhigt sie.
»Tessa?«, hört sie Charlotte vorsichtig fragen, ihre Stimme vermischt sich mit dem Sound der Anlage.
Tessa dreht ihren Kopf, starrt
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