Tessy und die Hörigkeit der Malerin - 1
geworden, dass kaum noch eine andere Empfindung zu ihr durchdrang.
Sie machen uns fertig, dachte Tessy, während sie in der Dunkelheit versuchte, Blickkontakt zu Charlotte und Paula aufzunehmen. Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig – wir wissen zuviel, wir haben zuviel gesehen, und wir haben uns erfinderisch und mutig gezeigt. Das weiß Simon, das weiß Philipp, und damit ist alles gesagt.
Die einzige Chance auf Rettung bestand darin, dass Dirk inzwischen wahrscheinlich versucht hatte, sie zu erreichen und stutzig geworden war, dass sie sich nach der SMS gar nicht mehr meldete. Zeit, dachte sie. Wir müssen Zeit gewinnen. Unbedingt. Jede Minute zählt. Zeit ist manchmal alles, was man noch hat.
Plötzlich fing es über ihr an zu poltern. Laute Stimmen, Gebrüll, Scheppern, noch mehr Gebrüll. Schreie. Befehle. Einen Augenblick später öffnete sich die Luke knarrend. Mehrere Gesichter beugten sich herab. Taschenlampen strahlten auf. Tessy fing an zu heulen, als sie eines der Gesichter sofort erkannte.
Kommissar Hanter sorgte dafür, dass sie zunächst ärztlich versorgt wurden und nach einer ersten knappen Aussage, die sie jeweils zu Protokoll gaben, nach Hause fahren durften. Paula und Charlotte fuhren gemeinsam in Paulas Wohnung, nachdem sie sich völlig erschöpft von Tessy verabschiedet hatten.
Als Dirk am späten Abend bei Tessy eintraf, hatte die fast zwei Stunden in der Badewanne gelegen und sich immer wieder ungläubig gefragt, ob sie nicht einen bösen Alptraum durchlebt hatte.
Dirk sah sie mit ernster Miene an, als sie sich auf die Terrasse setzten.
„Das war knapp“, sagte er leise.
„Ich weiß“, gab Tessy zurück. Die Gefangenschaft im Keller würde sie noch eine ganze Weile beschäftigen – daran gab es nichts zu rütteln. Und Edgar würde sie davon auch nichts erzählen. Ihrer Mutter schon mal gar nicht. Im Grunde: niemandem. Berufsrisiko, dachte sie und schluckte.
„Hat sich das Risiko wenigstens gelohnt?“, fragte sie einen nachdenklichen Moment später.
Dirk nickte langsam. „Ich sag’s ja ungern, aber um ehrlich zu sein: Ohne euer Engagement hätten wir diesen richtig großen Fisch nicht an Land gezogen. Wir haben in dem Keller jede Menge Heroin gefunden, und die Kollegen in München sind auch fündig geworden. Der gelieferte Schreibtisch war randvoll mit dem Zeug. Inzwischen nehmen die Kollegen den Pohlmann-Laden und Philipps Büro auseinander. Auf seine Kundendatei freuen wir uns jetzt schon. Und wenn wir Glück haben, sind die Partner auf bulgarischer Seite noch nicht gewarnt. Ihr könnt übrigens mit einer fetten Belohnung rechnen!“
„Wow.“ Tessy ging es augenblicklich besser. „Das hört sich ja richtig gut an. Was ist mit Simon und Philipp?“
„Philipp ist tot. Wir wissen noch nicht genau, was passiert ist, da Simon keinen Ton sagt, aber es kann gut sein, dass es Zoff gegeben hat. Die Kriminaltechniker und die Gerichtsmedizin werden hoffentlich bald mehr herausfinden.“
Tessy atmete tief durch. „Oh.“
Dirk legte ihr den Arm um die Schultern. „Ich hab verdammt Schiss um dich gehabt“, meinte er leise.
„Ich auch“, gab Tessy zu. Dann blickte sie ihn an. „Hast du Alarm geschlagen, als du mich nicht erreicht hast?“
„Ja, und fast zeitgleich hat ein junger Kerl Anzeige erstattet. Mark … ich weiß den Nachnamen nicht.“
Tessy lächelte. „Prima Junge – auf den ist Verlass.“
Sie kuschelte sich eng an Dirk, der ihr über den Rücken strich und sie behutsam und sanft küsste. Tessy erschauderte.
„Magst du heute Nacht bei mir bleiben? Ich meine: die ganze Nacht?“, fragte sie leise.
„Dich halten und trösten und aus Alpträumen wecken?“
„Ja. Genau. Und streicheln und lieben. Voller Zärtlichkeit.“
Dirk bedeckte jede Stelle ihres Körpers mit zarten Küssen und liebevollem Streicheln. Irgendwann in der Nacht legte er sich auf sie, tröstete sie mit seiner Kraft und Wärme, seiner Behutsamkeit und beschützenden Nähe. Sie nahm ihn sich auf, und alles fühlte sich gut und richtig an.
Einige Tage später war der Schock über die Geschehnisse soweit abgeklungen, dass Tessy nach ihrem Termin mit ihrem Auftraggeber, dem Antiquitätenhändler Thomas Gärtner, endlich Paula und Charlotte besuchen konnte.
Charlotte malte. Sie war bleich und schmal und schweigsam.
Tessy war bestürzt, als Charlotte ihr und Paula das Porträt zeigte, an dem sie hingebungsvoll gearbeitet hatte: Philipp. Ein leise schmunzelnder Philipp mit
Weitere Kostenlose Bücher