Tessy und die Zärtlichkeit des Kommissars
Firmen-Website herunterkopiert und ausgedruckt hatte, halbwegs dem tatsächlichen Aussehen entsprachen.
Maren Wildorn verließ gegen zwölf das Büro – an der Seite eines großen breitschultrigen Mannes im feinsten Armani-Zwirn, der sein Haar raspelkurz trug. Die beiden unterhielten sich angeregt. Tessy zückte ihre kleine Spiegelreflex-Digitalkamera – ein teures, leistungsstarkes Modell und genau genommen gar nicht ihr Eigentum, sondern das ihres letzten Arbeitgebers – und schoss schnell einige Fotos. Wenn sie nicht alles täuschte, stand der Mann ziemlich weit oben auf ihrer Porträtliste und bei BORMAN.
Sie blätterte die Fotoausdrucke durch, die sie in die Zeitschrift gelegt hatte, und wurde schnell fündig: Tim Bohrmann. Der war erst Ende Dreißig und leitete nach einem kometenhaften Aufstieg bereits die Abteilung Südeuropa. Beeindruckend, dachte Tessy. So was nennt man Karriere. Sie blickte wieder hoch, als rasch hintereinander mehrere Leute zu zweit und zu dritt das Gebäude verließen. So unauffällig wie möglich schoss sie weitere Fotos, obwohl sie gar nicht wusste, ob und wofür sie die Aufnahmen brauchen würde. Es konnte nie schaden, sich ein Bild zu machen. Tessy unternahm erst gar keinen Versuch, Kontakt mit einer Gruppe aufzunehmen. Sie wartete ab, bis ein Einzelgänger das Gebäude verließ.
Das war eine gute Viertelstunde später der Fall. Ein rascher Blick auf ihre Porträts genügte, und sie konnte den grauhaarigen kleinen Mann zuordnen: Hartmut Sänder, Mitte Fünfzig, Büro-Organisation und Logistik, auf gut deutsch: der Bürovorsteher. Der Mensch, der die Post verteilte, Termine vereinbarte, Besprechungen und Reisen organisierte, Büromaterial bestellte, Anrufer abwimmelte und häufig wusste, wer was mit wem hatte. Eigentlich ein Job, der meist von Frauen gemacht wurde.
Tessy steckte Fotoapparat und Zeitschrift ein, überquerte die Straße und heftete sich an Sonders Fersen. Der Mann legte ein flottes Tempo vor. An einem asiatischen Imbiss hielt er kurz an, um dann doch die Straßenseite zu wechseln und sich in einem anderen Shop ein Sandwich und einen Saft zu besorgen. Am Checkpoint Charlie verlangsamte er den Schritt und ergatterte schließlich einige Meter abseits der Straße eine Parkbank, auf der er sich niederließ und seinem Proviant zu Leibe zu rücken begann.
Das Wetter war zwar herrlich und für Picknick wie geschaffen, aber Tessy hätte sich einen wesentlich gemütlicheren und abgasärmeren Platz für einen Imbiss vorstellen können – nur die Frage stellte sich nicht. Vielleicht verband Sänder ja mit dem ehemaligen Grenzübergang eine ganz persönliche Geschichte oder er hatte ganz schlicht keine Lust mehr, weiter durch die Gegend zu laufen, zumal sein Zeitkontingent begrenzt war. Tessy trat an die Bank und lächelte, als Sänder ihr sein kleines wieselartiges Gesicht zuwandte.
„Ist hier noch frei?“, fragte sie.
Er rückte ein Stück zur Seite und machte eine einladende Handbewegung. „Na klar. Nehmen Sie Platz.“
Einen Moment war ihr Kopf wie leergefegt, und sie bedauerte, sich vorher keine Gedanken über eine sinnvolle Gesprächseinleitung gemacht zu haben, dann schob sie ihre Bedenken beiseite und atmete zweimal tief durch. In den wenigsten Fällen war es hilfreich, sich mit vorformulierten Sätzen auf eine Unterredung mit einem Menschen einstimmen zu wollen, den man gar nicht kannte und der einer Unterhaltung unter Umständen völlig abgeneigt war. Außerdem wusste Tessy, dass sie am besten war, wenn sie spontan, natürlich und direkt blieb.
„Ich würde mich gerne ein paar Minuten mit Ihnen unterhalten“, sagte sie und drehte Sänder den Kopf zu.
Der Mann hörte auf zu kauen und stutzte. „Mit mir? Sie wollen sich mit mir unterhalten? Warum das denn?“
„Sie könnten mir vielleicht ein paar wichtige Fragen beantworten.“
„Ach?“ Sänder biss erneut von seinem Sandwich ab und wischte dann vorsichtig mit einer Papierserviette über seine Lippen. „Und worum geht es dabei?“ Er warf einen gehetzten Blick in die Runde, als wollte er sich vergewissern, dass er nicht allein war und notfalls Hilfe holen konnte. „Ich hab’ nämlich nicht viel Zeit.“
„Ich weiß, Sie müssen zurück ins Büro. Sie arbeiten für BORMAN, nicht wahr?“
Verblüffung sprang ihr aus hellbraunen Augen entgegen. „Woher wissen Sie das denn?“
Tessy zuckte mit den Achseln. „Ich kenne mich ein bisschen aus in der Firma, und ich weiß, dass ohne Sie in der
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