Tessy und die Zärtlichkeit des Kommissars
Fairness ist, hat die noch nie interessiert. Deswegen gebe ich Ihnen jetzt einen Tipp.“ Er sah sich kurz um. „Also, wenn man bei uns komplette Akten mitnehmen will, muss man einen Vordruck ausfüllen, unterschreiben, je nach Position in der Firma unter Umständen gegenzeichnen lassen und in der Registratur abgeben – das ist unser Aktenlager und Archiv. Und wenn man das Ganze zurückbringt, wird der Zettel erneut unterschrieben und abgeheftet. Bei Dokumenten, die im Firmennetz abgelegt sind, läuft es ganz ähnlich. Man kann sie mit einem entsprechenden Passwort, das eigens angefordert werden muss, ausdrucken oder zwischenspeichern. Diese Vorgänge sind also bestens nachvollziehbar – so, wie es sein sollte.“
„Okay, verstehe, aber Patrick wird ja nicht so blöd gewesen sein, so einen Wisch auszufüllen und Spuren zu hinterlassen, wenn er vorhatte, die Unterlagen zu klauen.“
Sänder warf ihr einen raschen Seitenblick zu. „Sollte man annehmen.“
Tessy hob eine Augenbraue. „Wie meinen Sie das?“
„Ich meine, dass Patrick Akten mit nach Hause genommen hatte – ganz offiziell. Und korrekt hat er dafür die Vordrucke ausgefüllt.“ Wiesel zwinkerte.
Tessy atmete scharf ein. „Lassen Sie mich raten – und jetzt fehlen diese Vordrucke, so dass es aussieht, als ob …?“
Wiesel schürzte die Lippen. „Mehr kann ich dazu nicht sagen. Nur noch soviel: Das lässt sich nicht beweisen, und ich wäre unter keinen Umständen bereit, meine Worte bei der Polizei zu wiederholen.“ Er stand so plötzlich auf, dass Tessy zusammenzuckte. „Ich habe Ihnen schon zuviel gesagt.“ Sänder warf Becher und Papier in einen Mülleimer und drehte sich auf dem Absatz um.
Tessy erhob sich und schloss eilig zu ihm auf. „Eine Frage noch.“
„Nein! Es reicht!“ Er winkte ab und lief noch schneller.
„Moritz Sigfeld.“
Sänder drosselte abrupt das Tempo. „Sigfeld? Ein lieber Kerl. Er hat geglaubt, er könnte Wildorns Vormarsch stoppen … Weit gefehlt. Sie hat ihn rausgeekelt. Mit üblen Methoden. Heute sagt man Mobbing dazu. Und jetzt lassen Sie mich bitte in Ruhe.“
Er fing fast an zu rennen. Einige Leute blickten sich neugierig um. Tessy blieb stehen. Der hat die Hosen voll, dachte sie. Langsam ging sie zu ihrem Fahrrad am Kiosk zurück. Erst als sie einige Seiten ihres Notizheftes mit Stichpunkten gefüllt hatte und losfahren wollte, bemerkte sie den platten Hinterreifen.
„Scheiße“, fluchte sie. „Das hat mir gerade noch gefehlt.“
Sie ging in die Hocke und fuhr mit den Fingern über den Mantel des Reifens. An einer Stelle war ein langer gerader Einschnitt. Glasscherben hinterließen andere Spuren; außerdem verwendete Tessy grundsätzlich robustes Reifenmaterial, das nicht bei jedem kleinen Nagel schlapp machte. Und bei größeren Nägeln auch nicht. Langsam richtete sie sich wieder auf. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich mit der S-Bahn auf den Heimweg zu machen und das Rad am Bahnhof Lankwitz stehen zu lassen, um es später mit dem Wagen abzuholen. Sie strich ihr Haar nach hinten. Vielleicht war Kerstin zu Hause und konnte sie abholen. Tessy nahm ihr Handy heraus und wählte Kerstins Nummer. Die Freundin ging zwar gleich an den Apparat, hatte aber keine Zeit für Tessy.
„Ich habe einen Termin im Beerdigungsinstitut“, sagte sie leise. „Patricks Leiche ist frei gegeben.“
Tessy biss sich auf die Unterlippe. „Tut mir leid. Das wusste ich nicht.“
„Konntest du auch nicht. Ich hab’s grad erst erfahren“, fügte Kerstin hinzu. „Aber warum rufst du nicht deine Mutter an? Die hat doch so einen großen Wagen – da schmeißt ihr das Rad einfach hinten rein.“
Tessy verdrehte die Augen. „Du vergisst, dass ich meine Mutter nicht einfach mal so anrufe und um einen Gefallen bitte.“
„Selber schuld. Ich habe letztens mit ihr telefoniert, und sie bedauert es sehr, dass du dich so wenig meldest.“
„Mir kommen die Tränen! Lass uns das Thema beenden.“
„Ist ja schon gut. Aber wenn ich es richtig verstanden habe, wollte sie dich in jedem Fall demnächst mal besuchen.“
„Ich kann ja schon mal anfangen, die Tischsets zu bügeln.“
Zwei Sätze später beendeten sie das Telefonat, und Tessy machte sich auf den Weg zur S-Bahn. Als sie eine gute halbe Stunde später in Lankwitz ausstieg, stand ein dunkelblauer Van an der Straße. Jemand hupte und stieg aus. Strahlend und winkend wie Hillary Clinton im Wahlkampf, nur schlanker, drahtiger, schöner.
Tessy zog
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