Teufelsfrucht
»Astrance«. Oder im »Ledoyen«, das unlängst seinen zweiten Stern erhalten hatte? Es war schließlich immer gut, sich ein wenig auf dem Laufenden zu halten. Kieffer schaute auf seine Armbanduhr und legte den Gastronomieführer beiseite. Die haute cuisine würde warten müssen. Es war bereits acht Uhr – Zeit, sich auf den Weg zu machen.
Das »Pied de Cochon« war ein vor allem bei Nachtschwärmern beliebtes Restaurant im ersten Bezirk, unweit des Louvre. Das lag weniger an der reichhaltigen Brasseriekarte als vor allem an den Öffnungszeiten: Das »Cochon« war ein 24-Stunden-Betrieb und damit eine Ausnahmeerscheinung unter Pariser Restaurants. In der Weltstadt an der Seine hatten die meisten Restaurantbetreiber, was die Servierzeiten betraf, höchst rigide Vorstellungen. Mittagessen gab es von eins bis drei, Abendessen von acht bis elf. Wer sich zu einer anderen Stunde zu Tisch begeben wollte, hatte eben Pech – und war in den Augen der Franzosen außerdem nicht ganz richtig im Kopf.
Im »Cochon« hingegen konnte man nachts um drei ein Frühstück einnehmen oder nachmittags um vier eine mit Emmentaler gratinierte soupe d’oignon. Diese für Pariser Verhältnisse ungewöhnliche Flexibilität hatte das Restaurant aus jener Zeit bewahrt, als sich gegenüber noch der »Bauch von Paris« befunden hatte, wie die Franzosen Les Halles nannten, ihren gigantischen Großmarkt in der Innenstadt. Les Halles waren in den frühen Siebzigern geschlossen und durch ein ebenso monströses wie hässliches Einkaufszentrum ersetzt worden; doch noch immer konnte man im »Cochon« zum Fünf-Uhr-Frühstück Steaktartar mit Spiegeleiern bestellen, so wie es die Marktleute bereits vor 60 Jahren getan hatten.
Die Uhr an der Metro-Haltestelle Châtelet zeigte zehn vor neun. Raschen Schrittes passierte er die Kirche Saint Eustache sowie einen mit modernen Statuen verunzierten Platz und ging auf das hell beleuchtete Restaurant mit der knallroten Markise zu.
An einem geparkten Auto hielt er kurz an und musterte sich im Rückspiegel. Die Anspannung der letzten Tage war ihm deutlich anzusehen. Dunkle Ringe umrahmten seine blauen Augen. Das schulterlange, von grauen Strähnen durchzogene Haar hing ihm wirr ins Gesicht. Doch zumindest seine Kleidung sah tadellos aus.
Beim Packen war Kieffer aufgefallen, dass eine maßgeschneiderte, aber abgetragene Galadinner-Küchenuniform sein einziges repräsentatives Outfit war. Weil er der Hohepriesterin der haute cuisine schlecht in seinem Clausener Clochard-Look aus Jeans und T-Shirt gegenübertreten konnte, hatte er in einer Blitzaktion auf dem Weg zum Luxemburger Flughafen einen kompletten Satz neue Klamotten erstanden: schwarzes Cord-Jackett, blaues Button-Down-Hemd, braune Chinos, Schuhe. Kieffer überprüfte den Sitz seiner Krawatte. Er sah nicht übel aus, fand er.
Gerade wollte er die Straße überqueren, als sein Mobiltelefon klingelte. Es war Vatanen. »Sorry, es hat etwasgedauert, Xavier. Es gibt nicht viel über sie, außer ein paar Artikel in französischen Tageszeitungen.«
Kieffer seufzte. »Ich bin in wenigen Minuten mit ihr verabredet, und ich wette, sie ist die Art von Frau, die ungern wartet. Ich habe nur Zeit für die superkurze Version, Pekka.«
»Verstanden. Valérie Gabin, 36, Enkelin von Auguste. Ihr Vater war der Verlagschef bis 2005. Dann traf ihn der Schlag. Vermutlich eine berufsbedingte Foie-gras-Vergiftung«, gluckste der Finne fröhlich.
»Pekka …«
»Schon gut. Einziges Kind, erst Sainte Geneviève, ein Edelinternat. Dann Schweizer Hotelfachschule, später Studium der Ökonomie und Publizistik an der Columbia University in New York. Danach CIA …«
»… Culinary Institute of America? Nichts Französisches?«
»Nein. Aber nach drei Monaten abgebrochen. Danach hat Valérie Gabin in Venice Beach einen Surfshop eröffnet. Klingt nach Rebellion gegen die hehre Familientradition, wenn du mich fragst. Vielleicht hat ihren Vater auch deswegen der Schlag getroffen. Egal. Auf jeden Fall erbte sie den ganzen Kram, als der Alte mit 54 starb.«
»Ihr gehört der Gabin?«
»Zu 75,1 Prozent – Guide, Reiseführer, Zeitschriften und allerlei anderes Zeug. Den Rest besitzt irgendein Großverlag. Sie ist Geschäftsführerin, Verlegerin und Chefredakteurin.«
»Danke, Pekka. Du hast was gut.«
»Sieh zu, dass du deinen Laden wieder aufsperrst. Ich gedenke, mein Salär in Form von Rivaner und Wildschweinragout einzutreiben. Bis bald.«
Kieffer merkte, dass seine Hände
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