Teufelswasser
abgeschieden und war überwiegend von Feldern und Wald umgeben. Die Kirschbäume trieben wie die Linde bereits aus.
Otto Trautmann führte sie ohne Umschweife nach oben in seine Wohnung. Für die Arbeit im Café hatte er Angestellte. Er hatte einen schwarzen Tee für seine privaten Gäste vorbereitet, trank selbst aber Weinbrand aus einem bauchigen Glas, weil er doch ein wenig aufgeregt war. Deshalb fing er lieber gleich an, von seinen getöteten Freunden zu erzählen.
Sie seien während der Bombennächte in Berlin und Dresden zu Kriegswaisen geworden und am Ende des Krieges wahrscheinlich bei Flüchtlingen vorübergehend untergekommen. Das zweijährige Mädchen und der dreijährige Junge hätten keine Erinnerung mehr an ihre jeweiligen Eltern gehabt. Bald danach seien sie in einem Bamberger Waisenhaus aufgenommen worden.
«Ende der 50er-Jahre habe ich Margarete und Reinhold eines Tages in der ‹Katholischen Jugend› getroffen und mich sofort mit ihnen angefreundet», berichtete Otto Trautmann nicht ohne Rührung. «Wir waren so 16, 17 Jahre alt. Und die beiden waren schon damals sehr aufeinander fixiert, weil sie das gleiche Schicksal hatten und zufälligerweise auch den gleichen Nachnamen. In der Katholischen Jugend haben wir sie ‹die Zwillinge› genannt.»
Philipp Laubmann kam dabei der Name der Sonderkommission in den Sinn. Was sich nicht so alles wiederholte.
Trautmann hatte den Blick nach innen gerichtet, hing seinen Erinnerungen nach. «Zu dieser Zeit haben sich die beiden, fast zwangsläufig, möchte ich sagen, ineinander verliebt – und Margarete ist schwanger geworden. Das war seinerzeit eine absolute Katastrophe, persönlich und gesellschaftlich und kirchlich erst recht. Sie waren zu jung, ohne abgeschlossene Ausbildung, ohne Verwandte und nicht volljährig. Das wurde man damals erst mit 21. Obendrein hat Reinhold unbedingt Priester werden wollen.»
«Das kann ich mir gut vorstellen», meinte Gabriela Schauberg, die noch unter dem Eindruck der Nachricht stand, dass Margarete und Reinhold Müller gar nicht verwandt miteinander gewesen waren. «In meinem Bekanntenkreis habe ich in jüngeren Jahren auch erlebt, wie ein junges Mädchen schwanger geworden ist. Ein wahrhaftes Spießrutenlaufen war das für sie.»
«Meine Freunde hatten immerhin Glück im Unglück», erzählte Otto Trautmann weiter. «Margarete und Reinhold haben nämlich mit mir darüber gesprochen, und ich hab die Geschichte meinen Eltern anvertraut. Meine Eltern haben dann sehr großzügig reagiert und Margarete zu sich geholt. Und sie haben Margarete nach der Geburt ihres Sohnes Anton, das war 1961, eine Lehre als Sekretärin ermöglicht. In ihrem Betrieb. Später konnte Margarete dort sogar halbtags arbeiten, während sich meine Mutter und eine Hausangestellte um das Kind gekümmert haben.»
«Und wie kam das Gerücht auf, dass Margarete und Reinhold Müller Zwillinge seien?», fragte Laubmann.
«Nur wir fünf haben Bescheid gewusst, wer Antons Vater ist. Freilich hat sich Reinhold Müller um das Kind bemüht, und er hat es bestimmt geliebt. Aber er war nach außen immer der Onkel des Kindes. Er wollte ja unbedingt Theologie studieren, wozu ihm wiederum meine Eltern durch ihre finanzielle Unterstützung verholfen haben. Leider hat er das Studium nicht geschafft. Deshalb ist er schließlich als Mesner in kirchliche Dienste getreten.»
«So richtig beantwortet das meine Frage noch nicht, wie das Gerücht entstanden ist», beschwerte sich Philipp.
«Keine Sorge, ich will Ihnen nichts verschweigen», beteuerte Trautmann. «Bereits während der Schwangerschaft nämlich ist der Plan gereift, Reinhold und Margarete als Zwillinge auszugeben, um eine Erklärung dafür zu liefern, warum der Sohn – wie es wahrscheinlich sein würde – seinem wirklichen Vater ähnlich sah; und er sah ihm ähnlich. Bezogen auf einen Zwillingsbruder der Mutter jedoch haben die meisten das bloß für eine ausgeprägte Familienähnlichkeit gehalten. Außerdem konnte Reinhold seinem Sohn immer nahe sein. – Natürlich hat's auch böse Zungen gegeben.»
«Das heißt», überlegte Gabriela Schauberg, «Margarete hat uns etwas vorgemacht mit der Behauptung, dass sie Antons Vater kaum gekannt hat, wovon Anton Müller, denke ich mal, bis heute ausgeht.»
«Bis jetzt hat niemand den Mut aufgebracht, die Wahrheit auszusprechen», bedauerte Otto Trautmann, «auch dem Sohn gegenüber nicht. Reinhold hätte niemals seine Position in der Kirche gefährden wollen.
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