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Teufelszeug

Teufelszeug

Titel: Teufelszeug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Direkt daneben war mit Klebeband ein Bild von Merrin befestigt, wie sie mit zehn hinter ihrem Vater auf dem Motorrad saß. Sie trug eine Fliegerbrille und einen weißen Helm mit roten Sternen und blauen Rennstreifen, und sie hatte die Arme um Dale gelegt. Eine hübsche Frau mit kirschrotem Haar stand hinter dem Motorrad und lächelte in die Kamera, die eine Hand auf Merrins Helm. Erst dachte Ig, das sei Merrins Mutter, doch dann wurde ihm klar, dass sie zu jung war und dass es Merrins Schwester sein musste, die gestorben war, als sie noch in Baltimore wohnten. Zwei Töchter, beide tot. Selig sind die Trauernden, denn ihnen wird in die Eier getreten, sobald sie sich wieder ein wenig gefangen haben. Das stand nicht in der Bibel, aber vielleicht sollte es das.
    Als Dale seine Beherrschung zurückerlangt hatte, griff er nach dem Schlüssel, ließ den Wagen an und gab nach einem kurzen Blick in den Außenspiegel Gas. Dann rieb er sich mit dem Handgelenk übers Gesicht und setzte wieder die Brille auf. Für eine Weile fuhr er schweigend weiter. Dann küsste er seinen Daumen und legte ihn auf das kleine Mädchen auf dem Bild mit dem Motorrad.
    »Das war sein Wagen, Mary«, sagte er, sein Name für Merrin. »Völlig ausgebrannt. Ich glaube, er ist tot. Ich glaube, der böse Mann ist endlich tot.«
    Ig legte eine Hand auf den Fahrersitz und die andere auf
den Beifahrersitz und zog sich zwischen den beiden hindurch, so dass er plötzlich neben Dale saß.
    »Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen«, sagte Ig. »Aber nur die Guten sterben jung.«
    Dale stieß einen erstickten Schrei aus und riss das Steuer herum. Sie scherten nach rechts aus und rasten die Standspur entlang. Ig wurde nach vorn gegen das Armaturenbrett geschleudert. Steine klackerten und schabten den Unterbau des Wagens entlang. Dann blieben sie stehen; Dale sprang hinaus und rannte schreiend auf die Straße.
    Ig richtete sich auf - das ergab keinen Sinn! Bisher war noch niemand schreiend weggerannt, nachdem er die Hörner gesehen hatte. Einige hatten ihn umbringen wollen, aber niemand rannte schreiend weg.
    Dale taumelte den Mittelstreifen entlang, schaute sich um und stieß einige vogelartige Schreie aus. Eine Frau raste in einem Sentra vorbei und drückte auf die Hupe - mach, dass du vom Highway runterkommst, du verdammter Idiot! Dale stolperte zum Straßenrand, eine schmale Böschung, die zu einem von Unkraut überwucherten Graben hin abfiel. Die Erde unter seinem rechten Fuß gab nach, und er stürzte hinein.
    Ig setzte sich hinter das Steuer und fuhr ihm langsam nach.
    Als er sich auf gleicher Höhe mit ihm befand, rappelte sich Dale gerade mühsam auf. Er kletterte gar nicht erst aus dem Graben, sondern nahm sofort wieder die Beine unter die Arme. Ig ließ das Fenster auf der Beifahrerseite herunter, beugte sich über den Sitz und rief: »Mr. Williams, bitte steigen Sie ein!«
    Dale rannte mit unvermindertem Tempo weiter; sein Atem ging keuchend, und er fasste sich mit der Hand ans
Herz. Schweiß glänzte auf seinen Wangen. Seine Hose war am Hintern eingerissen.
    »Hau ab!«, brüllte Dale, aber es klang wie ein einziges Wort: Hauab. »Hauabilfe!« Er stieß das Wort noch zweimal aus, bevor Ig begriff, dass er »Hau ab Hilfe« gesagt hatte.
    Ig starrte das Jesusbildchen, das am Armaturenbrett hing, fragend an, ganz so, als hoffte er, der Heiland könne ihm einen Rat geben. In dem Moment fiel ihm das Kreuz ein. Er blickte an sich hinunter - es ruhte noch immer auf seiner nackten Brust. Lee hatte die Hörner nicht sehen können, als er das Kreuz getragen hatte; es war nur folgerichtig, dass niemand die Hörner sehen konnte, wenn Ig das Kreuz selbst trug, und dass sie auch ihre Wirkung verloren - eine erstaunliche Schlussfolgerung, die bedeuten konnte, dass das Kreuz seine Rettung war. Für Dale Williams war Ig einfach der Sexmörder, der seine Tochter den Schädel eingeschlagen hatte und der urplötzlich in einem Rock und mit einer Mistgabel in der Hand auf seinem Rücksitz aufgetaucht war. Das goldene Kreuz, das Ig am Hals baumelte, war seine Menschlichkeit, und sie leuchtete hell im Morgenlicht.
    Aber seine Menschlichkeit half ihm auch nicht weiter - nicht hier und jetzt und auch nicht in irgendeiner anderen Situation. Sie hatte ihm nichts mehr genutzt, seit Merrin ihm genommen worden war. War sogar sein wunder Punkt gewesen. Inzwischen hatte er sich so sehr an die Hörner gewöhnt, dass er, selbst wenn er könnte, nicht zu seinem alten Leben

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