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Teufelszeug

Teufelszeug

Titel: Teufelszeug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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los.
    Die Stille im Wagen zerrte an seinen Nerven. Er schaltete das Radio ein, aber das machte es nur noch schlimmer. Seine Eltern wohnten fünfzehn Minuten außerhalb der Stadt - zu viel Zeit, um nachzudenken. Seit jener Nacht, die er im Gefängnis verbracht hatte, nachdem er verhaftet und wegen Merrins Ermordung verhört worden war, war er nicht mehr so unsicher gewesen, wie sie sich ihm gegenüber verhalten würden.
    Zu Beginn der Vernehmung hatte der Kriminalbeamte ein Foto über den Tisch geschoben. Als Ig später allein in seiner Zelle war, sah er dieses Bild jedes Mal, wenn er die Augen schloss. Merrin lag auf dem Rücken, weiß auf braunen Blättern, die Beine nebeneinander, die Arme angelegt, das Haar fächerförmig ausgebreitet. Ihr Gesicht war dunkler als der Untergrund, ihr Mund voller Blätter, und von ihrem Haaransatz lief ihr ein schwarzes Rinnsal getrockneten Blutes über die Wangenknochen. Sie trug noch immer seine Krawatte, und der breite Stoffstreifen bedeckte ihre linke Brust. Er bekam das Bild nicht mehr aus dem Kopf. Es setzte ihm so zu, dass er irgendwann - er wusste nicht,
wann, weil es in der Zelle keine Uhr gab - vor der Edelstahltoilette auf die Knie fiel und sich übergab.
    Er hatte furchtbare Angst vor dem Besuch seiner Mutter am nächsten Tag. Es war die schlimmste Nacht seines Lebens, und er hielt es für wahrscheinlich, dass es ihr ähnlich erging. Er war noch nie wegen irgendetwas in Schwierigkeiten geraten. Bestimmt schlief sie nicht, und er sah sie vor sich, wie sie in ihrem Nachthemd in der Küche saß, eine Tasse kalten Kräutertee vor sich, mit geröteten Augen und bleichem Gesicht. Sein Vater, Derrick Perrish, würde ebenfalls kein Auge zutun. Ig fragte sich, ob er still bei seiner Frau sitzen würde, sie beide starr vor Angst, weil ihnen nichts anderes übrigblieb, als zu warten, oder ob er aufgebracht und missgestimmt in der Küche auf und ab gehen und ihr erklären würde, wie sie das wieder in Ordnung bringen würden und wen er alles zusammenstauchen würde.
    Ig hatte sich vorgenommen, nicht zu weinen, wenn seine Mutter kam, und er weinte auch nicht. Sie ebenso wenig. Seine Mutter hatte sich wie für ein Mittagessen mit dem Kuratorium der Universität herausgeputzt, und ihr schmales, schlankes Gesicht wirkte aufmerksam und ruhig. Sein Vater dagegen sah so aus, als hätte er geweint. Derrick hatte Mühe, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Sein Atem stank.
    Igs Mutter sagte: »Sprich mit niemandem außer deinem Anwalt.« Das war das Erste, was er von ihr zu hören bekam. Und: »Gib bloß nichts zu.«
    Sein Vater wiederholte es - »Gib bloß nichts zu« -, umarmte ihn und brach in Tränen aus. Und dann, noch während er laut schluchzte, murmelte er: »Es ist mir gleichgültig, was passiert ist.« Da begriff Ig, dass sie tatsächlich glaubten, er hätte es getan. Auf diesen Gedanken war er
überhaupt nicht gekommen. Selbst wenn er es getan hätte - selbst wenn er auf frischer Tat ertappt worden wäre -, hätte er gedacht, dass seine Eltern an seine Unschuld glauben würden.
    Später an jenem Nachmittag verließ Ig das Polizeirevier von Gideon, und seine Augen schmerzten in dem grellen Oktoberlicht. Er war nicht angeklagt worden. Er wurde auch später nicht angeklagt. Aber er wurde auch nie von jedem Verdacht freigesprochen. Bis heute stand er auf der Liste potenzieller Täter.
    Am Tatort waren Indizien gesammelt, vielleicht sogar DNA-Spuren gefunden worden - Ig wusste es nicht genau, weil die Polizei die Einzelheiten für sich behielt. Er glaubte, dass er, wenn die Untersuchungen erst einmal abgeschlossen waren, öffentlich rehabilitiert werden würde. Aber im Zentrallabor in Concord brach ein Feuer aus und zerstörte die Proben, die aus der Umgebung von Merrins Leichnam stammten. Als Ig davon erfuhr, fühlte er sich wie vor den Kopf gestoßen. Unter solchen Umständen war es schwer, nicht an eine Verschwörung dunkler Mächte zu glauben. Der einzige kriminaltechnische Beweis, der übrig blieb, war der Abdruck eines Good Year -Reifens. Ig hatte auf seinen Gremlin Michelins aufgezogen. Aber deshalb war er noch lange nicht aus dem Schneider. Sein Alibi - dass er die Nacht allein und sturzbetrunken in seinem Auto hinter einem verlassenen Dunkin’ Donuts mitten im Nirgendwo verbracht hatte - klang wie eine verzweifelte, fadenscheinige Lüge, selbst in seinen Ohren.
    In jenen ersten Monaten, in denen Ig wieder zu Hause wohnte, behandelten ihn seine Eltern wie ein Kind, das die

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