Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Teufelszeug

Teufelszeug

Titel: Teufelszeug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
Vom Netzwerk:
zurück in den Fluss geglitten war.
    Allmählich konnte er auch wieder die Blätter erkennen, die vor dem Hintergrund des gleißenden Himmels sanft bebten. Jemand kniete neben ihm und hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. Mehrere Jungs brachen durch das Unterholz und blieben unvermittelt stehen, als sie ihn sahen.
    Ig konnte nicht erkennen, wer da neben ihm kniete, aber bestimmt war es Terry. Terry hatte ihn aus dem Wasser gezogen und dafür gesorgt, dass er wieder atmen konnte. Er rollte auf den Rücken, um seinem Bruder ins Gesicht zu schauen. Ein magerer, blasser Junge mit kurzem eisblondem Haar starrte ihn ausdruckslos an. Lee Tourneau strich sich gedankenverloren die Krawatte auf der Brust glatt. Seine
Khakishorts waren tropfnass. Ig musste ihn nicht nach dem Grund fragen. In dem Moment, während er Lee ins Gesicht starrte, beschloss er, künftig auch eine Krawatte zu tragen.
    Terry kam herbeigestürzt, sah Ig und bremste scharf ab. Eric Hannity befand sich direkt hinter ihm und rannte in einem solchen Tempo in ihn hinein, dass beide zu Boden gingen. Inzwischen hatten sich fast zwanzig Jungen um Ig versammelt.
    Er setzte sich auf und zog die Knie an die Brust. Wieder blickte er zu Lee hoch - er wollte etwas sagen, doch kaum versuchte er es, durchzuckte ein herber Schmerz seine Nase, so als hätte er sie sich gerade zum zweiten Mal gebrochen. Er beugte sich vor und schnaubte rote Flüssigkeit auf die Erde.
    »Tut mir leid wegen dem Blut«, sagte er.
    »Ich dachte, du wärst tot. Du hast jedenfalls so ausgesehen. Du hast nicht geatmet.« Lee zitterte.
    »Hm«, sagte Ig. »Jetzt atmete ich ja wieder. Danke!«
    »Was hat er gemacht?«, fragte Terry.
    »Er hat mich rausgezogen«, sagte Ig und deutete auf Lees durchnässte Shorts. »Er hat mir das Leben gerettet.«
    »Bist du reingesprungen?«, wollte Terry wissen.
    »Nein«, sagte Lee. Er blinzelte, ganz offensichtlich zutiefst verwirrt, als hätte ihm Terry eine schwierige Frage gestellt: nach der Hauptstadt von Island oder der Lieblingsblume des Präsidenten. »Als ich ihn entdeckt habe, lag er bereits an einer flachen Stelle. Ich bin nicht zu ihm rausgeschwommen … oder so was. Er war schon …«
    »Er hat mich rausgezogen«, fiel Ig ihm ins Wort. Er hatte genug von Lees bescheidenem Gestammel. Er erinnerte sich ganz genau daran, dass da jemand bei ihm im Wasser gewesen
war, hatte dicht neben sich eine Bewegung gespürt. »Ich habe keine Luft mehr bekommen.«
    »Hast du ihn Mund-zu-Mund beatmet?«, fragte Eric Hannity mit unüberhörbarer Skepsis.
    Lee schüttelte noch immer verwirrt den Kopf. »Nein. Nein, so war es nicht. Ich hab ihm nur auf den Rücken geschlagen, also … als er …« Er verhaspelte sich und schien nicht mehr weiterzuwissen.
    »Deshalb musste ich auch husten«, fuhr Ig fort. »Ich hab fast den ganzen Fluss verschluckt. Meine Brust war randvoll, und er hat alles aus mir rausgeklopft.« Er sprach mit zusammengebissenen Zähnen. Der Schmerz in seiner Nase kam stoßweise, wie Stromschläge. Sie schienen sogar eine Farbe zu haben; wenn er die Augen schloss, sah er neongelbe Lichtblitze.
    Die Umstehenden waren wie vor den Kopf geschlagen und musterten Ig und Lee Tourneau schweigsam. Was gerade geschehen war, passierte sonst nur in Tagträumen oder Fernsehserien. Jemand wäre fast gestorben, und jemand anders hatte ihn gerettet, und der Gerettete und der Retter waren plötzlich etwas Besonderes, Stars in ihrem eigenen Film, und alle anderen waren bestenfalls noch Statisten. Einem Menschen wirklich und wahrhaftig das Leben gerettet zu haben bedeutete, dass man jemand war - kein irgendwer mehr, sondern derjenige, der Ig Perrish aus dem Knowles River gezogen hatte, als dieser fast ertrunken wäre. Und bis ans Lebensende würde das so bleiben.
    Ig konnte den Blick nicht mehr von Lees Gesicht abwenden. Er war gerettet worden! Er wäre fast gestorben, und dieser Junge mit dem blassblonden Haar und den neugierigen blauen Augen hatte ihn zurückgeholt. In evangelikalen Kirchen ging man zum Fluss, wo man untergetaucht und
wieder emporgehoben wurde, um fortan ein neues Leben zu führen, und Ig hatte das Gefühl, dass Lee ihm dieses neue Leben geschenkt hatte. Ig wollte ihm etwas kaufen, ihm etwas schenken, herausfinden, was seine Lieblingsband war, damit er auch für sie schwärmen konnte. Er wollte für Lee die Hausaufgaben machen.
    Im Unterholz ertönte ein lautes Krachen, als käme jemand mit einem Golfwagen auf sie zugefahren. Dann stand plötzlich

Weitere Kostenlose Bücher