Teuflische Schwester
weh, obwohl sie ständig
den Stoff in die Höhe hielten.
Denn es war nicht Melissa, die in dieser endlosen Nacht
unentwegt arbeitete. Es war ein anderes Kind, und es
nähte unermüdlich weiter, bis die ersten Sonnenstrahlen
allmählich aus dem Meer tauchten und das Werk vollendet
war. Erst jetzt war sie bereit, sich Schlaf zu gönnen.
Wie fast jeden Morgen wachte Cora Peterson pünktlich
um halb sechs auf. Während sie sich anzog und das Bett
machte, warf sie immer wieder einen besorgten Blick auf
Melissas geschlossene Fenster. Sie überlegte, ob sie nicht
gegen ihre sonstige Gewohnheit zum Herrenhaus gehen
sollte, um bei Melissa nach dem Rechten zu sehen.
Gestern abend, als sie den halben Teller hatte stehen
lassen, hatte sie wahrhaftig nicht gut ausgesehen. Das
arme Kind hatte unter einer schrecklichen Nervenanspannung gestanden, und sein Gesicht war ganz
eingefallen gewesen. Aber vielleicht hatte sie nur aus
Müdigkeit vergessen, die Fenster vor dem Zubettgehen
aufzumachen. Schließlich hatte es in diesem Sommer noch
keinen Ärger gegeben, und so nahm die Haushälterin ihre
Sorgen nicht weiter ernst.
Als sie mit dem Aufräumen fertig war, klopfte sie laut an
Todds Tür, bevor sie zum Frühstücken in die Küche ging.
Natürlich wäre es für sie weitaus leichter, wenn sie im
Herrenhaus essen könnte. Das ließ die zweite
Mrs. Holloway jedoch nicht zu. So bezeichnete Cora
Phyllis insgeheim nach wie vor, obwohl sie jetzt schon so
lange mit Charles verheiratet war. Die neue Hausherrin
hatte eben ihre eigenen Regeln und dazu gehörte, daß das
Personal nicht mit den Herrschaften essen durfte.
»Das Personal«, schnaubte Cora verächtlich, während
sie ein halbes Dutzend Eier in die Pfanne schlug. Als ob es
heutzutage noch Pagen, einen Schwarm Dienstmägde und
einen Butler gäbe! Vor Generationen mochte das noch der
Fall gewesen sein, aber trotz ihrer dreiundsiebzig Jahre
kannte Cora solche Verhältnisse nicht aus ihrer Kindheit.
Dieser Tage kam allenfalls ein Reinigungstrupp einmal
wöchentlich ins Haus. Den Rest der Arbeit bewältigte Tag
für Tag sie allein. Das störte sie freilich nicht. Um Charles
Holloway kümmerte sie sich immerhin seit dem Tag
seiner Geburt. Genauso wollte sie es weiter mit ihm und
seinen Kindern halten, bis ihr das Herz den Dienst
versagte.
Beim Gedanken an Charles trat Polly ihr wieder vor
Augen. Cora kämpfte die Tränen zurück. Sie halfen jetzt
auch nicht weiter. Wenn Cora sich etwas zugute hielt, so
war es ihre praktische Veranlagung. Nein, mit einer Toten
durfte sie sich nicht weiter abgeben. Statt dessen wollte sie
lieber überlegen, wie sie das Haus für Teris Heimkehr
herrichtete.
Sie brauchte unbedingt ein Zimmer. Vielleicht das
hübsche sonnige im Ostflügel mit Blick auf die Bucht.
Sie hielt inne. Womit gab sie sich nur ab? Sie erwarteten
ja nicht die Ankunft eines Kleinkindes. Teri war ja bald
erwachsen! Sie wollte bestimmt selbst entscheiden, in
welches Zimmer sie zog.
Todd riß sie aus ihren Gedanken. Nur mit einer
abgeschnittenen alten Jeans bekleidet, kam er in die Küche
geschlurft und lümmelte sich auf seinen Stuhl. Cora
musterte ihn streng. »Willst du heute schon wieder
faulenzen?« Todd schüttelte den Kopf. »Nein, ich will was
im Gemüsegarten tun. Mrs. Holloway wird mich den
ganzen Tag nicht zu Gesicht bekommen.«
Mit einem Brummen stellte Cora einen Teller vor ihren
Enkel. Nicht zum erstenmal fragte sie sich, von wem er
seinen Charakter hatte. Von ihrem Sohn gewiß nicht, denn
der hatte schon in der Kindheit jede Arbeit gescheut. Und
soweit Cora es beurteilen konnte, hatte Todd auch wenig
mit seiner Mutter gemein. Sie hatte die meiste Zeit in
Gaststätten verbracht, wo Kirk Peterson sie auch
kennengelernt hatte. Kurz nach Todds Geburt waren die
beiden fortgefahren. Das Baby hatten sie ›für ein paar
Wochen‹ bei der Großmutter gelassen. Aus den Wochen
waren Monate und dann Jahre geworden. So hatte sie
Todd allein aufgezogen und mit wachsender Zufriedenheit
festgestellt, daß er sich in jeder Hinsicht anders
entwickelte als sein Vater. Er arbeitete fleißig, schien sich
von niemandem aus der Fassung bringen zu lassen und
legte ein geradezu sonniges Gemüt an den Tag. Er mußte
diese Einstellung erfunden haben, sagte sich Cora, denn
von der Welt um ihn herum konnte er sie nicht haben.
Sie musterte seine schäbige Kleidung noch einmal
abschätzig. »Sag ja nicht, ich hätte dich nicht gewarnt,
wenn sie
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