THARKARÚN – Krieger der Nacht
Überreste der Leiche störten ihn die scheinbar ungerührten Erklärungen der Befehlshaber noch mehr. Vielleicht wäre er doch besser bei seinem Bruder in der Festung geblieben. Er war noch nicht bereit für solche Erlebnisse.
Gavrilus näherte sich nachdenklich dem Tisch und stellte sich zwischen Shannon und Asduvarlun. Der eiserne General musste ihn einen Augenblick lang stützen. Die blauen Augen des Elbenkönigs glitten beinahe zärtlich über den ausgestreckten Körper. Dhannam entdeckte Mitleid darin: ein Gefühl, das sich sein Vater in letzter Zeit nicht erlauben konnte, vielleicht, weil es als ein weiteres Zeichen von Schwäche gedeutet werden konnte. Gavrilus wandte sich nun Shannon zu. Die beiden hätten nicht unterschiedlicher sein können: der König so weiß und durchscheinend wie Nebel, mit seinen glatten weißen Haaren, und der Hexer in
seinem schwarzen Gewand, mit den durchdringenden goldenen Augen und den blutroten Haaren.
»Die Gremlins werden bestimmt nach Shilkar zurückkehren, oder?«, fragte Gavrilus.
Shannon nickte noch einmal. »Ganz bestimmt kommen sie zurück«, antwortete er. »Sie führen einen Krieg.«
Amorannon Asduvarlun hielt sich an Gavrilus’ Seite, als wolle er ihn vor etwas beschützen. »Wie wir auch«, sagte er. Nicht mehr. Und wie immer gelang es ihm, mit drei einfachen Worten alles Notwendige auszudrücken. Seine Entschlossenheit hätte auch in tausend Reden nicht deutlicher zum Ausdruck kommen können und sogar Zaraks Blick verriet, dass er ihm zustimmte.
»Es gibt keinen Grund, die Toten noch weiter in ihrer Ruhe zu stören«, schloss Shannon und man konnte der allgemeinen schweigenden Zustimmung anmerken, wie erleichtert alle darüber waren. »Unser armer Mitbruder hat uns alles mitgeteilt, wozu er noch in der Lage war. Und die Lebenden benötigen nun Anführer, Befehle.« Man konnte sich nur schwer vorstellen, welche Anstrengung es ihn kostete, dies zuzugeben, und dennoch zitterte seine Stimme nicht, als er hinzufügte: »Seit Gründung unseres Ordens ist so etwas noch nie vorgefallen. Ich fürchte, ich muss gestehen, dass diesmal selbst wir Fehler machen könnten.«
Die Möglichkeitsform machte ihm seine Worte sicher nicht leichter. General Asduvarlun bemerkte das und kam ihm zu Hilfe: »Diesmal müssen wir vielleicht alle noch etwas dazulernen.«
Shannon gab den kapuzenverhüllten Hexern einen Wink, woraufhin sie den Toten auf dem Marmortisch mit einem schwarzen Tuch bedeckten. Dhannam war erleichtert darüber, doch er wusste genau, sobald er die Augen schloss, würde er ihn immer noch vor sich sehen. Noch immer lag der drückende Hauch von Magie in der Luft. Dhannam folgte Shannon und Asduvarlun, die der Gruppe vorangingen. Asduvarlun wich nicht von Gavrilus’ Seite und Shannon folgte kurz hinter Zarak. Die drei Hexer in ihren schwarzen Gewändern bildeten den Schluss dieses improvisierten
Zuges, und sie wirkten so düster, dass sie auch einem Albtraum entstammen konnten.
Der beißend kalte Wind draußen weckte Dhannams Lebensgeister. Während sie die grauen, stillen Straßen von Shilkar entlanggingen, sog er tief die eisige Luft in seine Lungen ein, die so erfrischend wirkte wie neugeborenes Leben. Er glaubte, den Hauch des Nordmeers zu spüren, aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein und versuchte, seine Seele damit zu trösten. Zu Anbeginn der Zeiten waren die Elben aus dem Meer geboren worden, und dorthin zurückzugehen, war so, als kehrten sie in den mütterlichen Schoß zurück.
Plötzlich hörte man von fern ein Geräusch, den Klang von Zimbeln und Flöten. Oder bildete er sich das auch nur ein? Es war näher als der Hauch des Meeres, aber deshalb nicht realer. In der abweisenden verbotenen Stadt der Schwarzen Hexer, die von dem Angriff tief getroffen war, konnte kaum etwas so unpassend wirken wie diese fernen Klänge. Eine Art Melodie, die die Schwingungen der Erde und des Windes aufnahm und im gleichen Rhythmus pulsierte. Klänge aus einer längst vergangenen Zeit, als man so mit den Göttern sprach, aus einer Zeit, in der die Götter noch Antworten gaben.
Als sie den großen grauen Platz, den Mittelpunkt der Stadt, erreichten, entdeckte Dhannam endlich, woher diese Töne kamen.
Er sah einen langen, sich bewegenden Ring vor sich, einen Kreis aus Haarschöpfen in den unterschiedlichsten Farben, der sich nach der einschmeichelnden Melodie ausdehnte oder zusammenzog. Die Schwarzen Hexer tanzten. Ihre über den Rücken geworfenen Kapuzen
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