The Stand. Das letze Gefecht
hagerer aus, das bekümmerte Gesicht eines einsamen Flüchtlings, der einem gräßlichen Gemetzel entkommen war, jenseits der menschlichen Vorstellungskraft. Nach und nach wurden die tiefen Furchen in seinem Gesicht weicher. Er sank in weiten Spiralen zu den tiefsten Ebenen der Bewußtlosigkeit hinab und ruhte dort aus wie ein kleines Flußlebewesen, das im kühlen Schlamm den Sommer überdauert. Die Sonne sank tiefer am Himmel.
In der Nähe des Bachrands raschelte es in einem ausladenden Gebüsch - etwas bewegte sich verstohlen in den Zweigen, hielt inne, bewegte sich wieder. Nach einer Weile kam ein Junge heraus. Er war vielleicht dreizehn, vielleicht auch zehn und groß für sein Alter. Abgesehen von Fruit-of-the-Loom-Shorts war er nackt. Sein Körper war gleichmäßig mahagonifarben braungebrannt, abgesehen von einem verblüffend weißen Streifen gleich über dem Saum der Shorts. Seine Haut war von Moskitostichen und Insektenbissen verunziert, manche frisch, die meisten alt. Er hielt ein Schlachtermesser in der rechten Hand. Die Klinge war dreißig Zentimeter lang, die Schneide gezackt. Sie funkelte grell in der Sonne.
Leise, in den Hüften leicht nach vorne gebeugt, näherte er sich der Ulme und der Mauer, bis er direkt hinter Larry stand. Seine Augen waren blaugrün, die Farbe von Meerwasser, und in den Augenwinkeln leicht hochgezogen, was seinem Gesicht einen chinesischen Einschlag gab. In den ausdruckslosen Augen lag eine verhaltene Wildheit. Er hob das Messer.
Eine leise, aber bestimmte Frauenstimme sagte: »Nein.«
Er drehte sich zu ihr um und lauschte mit gesenktem Kopf und immer noch erhobenem Messer. Seine Haltung war fragend und enttäuscht zugleich.
»Wir beobachten nur und warten ab«, sagte die Frauenstimme. Der Junge machte eine Pause, sah vom Messer zu Larry und dann wieder zum Messer; auf seinem Gesicht lag ein seltsam sehnsüchtiger Ausdruck; dann wich er den Weg zurück, den er gekommen war.
Larry schlief weiter.
Als er aufwachte, stellte Larry als erstes fest, daß er sich gut fühlte. Als zweites, daß er Hunger hatte. Als drittes, daß die Sonne am falschen Ort stand; sie schien am Himmel rückwärts gewandert zu sein. Als viertes, daß er - bitte verzeihen Sie die Ausdrucksweise - pissen mußte wie ein Brauereipferd.
Als er aufstand und beim Strecken das Knacken seiner Sehnen hörte, wurde ihm plötzlich klar, daß er nicht nur gedöst hatte; er hatte die ganze Nacht geschlafen. Er blickte auf die Uhr und sah, warum die Sonne falsch stand. Es war 9 Uhr 20 am Vormittag. Hunger. In dem großen weißen Haus mußte es Lebensmittel geben. Dosensuppe, vielleicht Corned Beef. Sein Magen knurrte. Bevor er dorthin ging, legte er die Kleidung ab, kniete am Bach nieder und spritzte sich Wasser über den Körper. Er stellte fest, wie mager er geworden war - so ging das nicht weiter. Er stand auf, trocknete sich mit seinem Hemd ab und zog die Hose wieder an. Ein paar Steine streckten die nassen, schwarzen Rücken aus dem Bach heraus, auf ihnen ging er zur anderen Uferseite. Dort blieb er plötzlich starr stehen und blickte zu dem dichten Gebüsch hinüber. Die Angst, die seit dem Aufwachen in ihm geschlummert hatte, flammte plötzlich auf wie ein Feuer explodierender Tannenzapfen und erlosch genau so schnell wieder. Es mußte ein Eichhörnchen oder Waldmurmeltier gewesen sein, vielleicht auch ein Fuchs. Kein Grund zur Panik. Er wandte sich beruhigt wieder ab und ging über den Rasen zu dem großen weißen Haus hinauf.
Auf halbem Wege stieg ein Gedanke wie ein Luftbläschen zur Oberfläche seines Verstandes und zerplatzte. Es geschah ganz nebenbei, ohne Fanfarenstoß, aber er blieb dennoch vor Verblüffung wie angewurzelt stehen.
Der Gedanke war: Warum bist du nicht mit einem Rad gefahren?
Er stand auf halbem Weg zwischen Haus und Bach mitten auf dem Rasen, und es war so einfach, daß er es kaum fassen konnte. Er war zu Fuß gegangen, seit er die Harley stehengelassen hatte, hatte sich verausgabt und war zum Schluß mit einem Hitzschlag zusammengebrochen, oder mit etwas Ähnlichem; es spielte jetzt keine Rolle mehr. Er hätte radeln können, nicht schneller als im Schrittempo, wenn er wollte, und könnte schon lange an der Küste sein und sich ein Sommerhaus aussuchen und einrichten. Er fing an zu lachen, zuerst leise, weil es gespenstisch in der unendlichen Stille klang. Zu lachen, ohne daß jemand da war, der mitlachen konnte, war ein weiteres Zeichen dafür, daß man ohne Rückfahrkarte auf
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