The Volunteer. Erinnerungen eines ehemaligen IRA-Terroristen (German Edition)
Wunden der katholischen Besiegten zu reiben.
Der 12. August ist der große Tag in Derry, an dem ein protestantischer Oranierorden namens „Apprentice Boys“ durch die überwiegend katholischen Stadtteile von Derry marschiert und die Befreiung von Derry feiert. Die Stadt war 1690 von katholischen Getreuen des Königs Jakob vergebens belagert worden. Der Umstand, dass all das schon dreihundert Jahre zurück liegt, spielt auch keine Rolle – die derzeitige Machtverteilung drückt sich für protestantische Begriffe in den Märschen sehr gut aus.
Im August 1969 waren die Katholiken in Derry gegen den Salz in die Wunde reibenden protestantischen Triumphmarsch durch ihre Wohngebiete, während viele protestantische Marschierer aus ganz Nordirland, wild entschlossen, ihren Triumphzug durchzuführen, sich gewiss waren, dass die Polizei ihnen das Recht, durch katholische Viertel zu ziehen, gewaltsam sichern würde. Damit hatten sie völlig Recht, und so waren die Voraussetzungen geschaffen.
Ich hatte durch hervorragende Leistungen im Schulfach Irisch ein Stipendium gewonnen und deshalb vier Wochen lang an einem Sommerseminar in Rannafast in Donegal teilgenommen. Rannafast ist eines der Gaeltacht-Gebiete in Irland, wo Irisch noch als Muttersprache gesprochen wird. Das vierwöchige Seminar umfasste Irischen Tanz und Gesang, mit etwas Betonung der geschichtlichen Komponente, und was mir noch viel wichtiger erschien, mit Mädchen. Junge Leute aus ganz Irland nehmen an solchen Sommerseminaren teil, und es kommen auch einige aus dem Ausland. Protestantische Kinder aus der Republik Irland nehmen ebenfalls teil. Der Anführer des Osteraufstands von 1916, Patrick Pearse, hatte etwas mit der Gründung der Gaeltacht-Schule zu tun gehabt, was sie mir noch interessanter machte.
Ich erinnere mich noch deutlich an den letzten Abend. Es war ein Ceili-Tanzabend am College, und ich ging mit Maire Dempsey, einem Mädchen aus Dublin, das ich gern mochte, zum Fenster, um den Sonnenuntergang zu beobachten. Ich sah in den rosaroten Himmel und sagte zu ihr: „Wer weiß, wo wir in zehn Jahren sein mögen.“ Da wusste ich bereits, dass die Lage in Derry so schlimm war, dass die IRA, wo immer sie auch war, bald in Erscheinung treten musste, und ich wünschte mir nichts in der Welt so sehr, als mich dort einzureihen. Es war nicht nur eine Vorahnung, sondern fast schon eine feste Überzeugung von mir, dass ich innerhalb der nächsten Jahre entweder tot oder im Gefängnis sein würde.
Als ich nach Hause zurück kam, war Derry infolge der von Polizisten begangenen Morde an den beiden Katholiken so nervös wie nie zuvor. Zehntausende waren zum Begräbnis von Sammy Devenney erschienen. Als weitere Anspannung kam die Nachricht hinzu, dass die berüchtigten „B-Specials“ (eine bewaffnete paramilitärische Protestanten-Truppe, die die Polizei unterstützen sollte) in Bereitschaft waren und mit Gewehren durch die Straßen patrouillierten. Tausende von Oranier-Marschierern würden an der Bogside entlangziehen, was für die dort lebenden Katholiken eine ernstliche Bedrohung darstellte, und die Radiosender und Fernsehstationen berichteten in den Nachrichten über diese Befürchtungen mit einem Appell an die Oranier-Orden, ihre provozierenden Paraden abzusagen.
Dennoch wurden die Märsche begonnen, und wer an ihnen teilnahm, ahnte nicht, dass hier nicht eines Sieges, sondern schon bald der Niederlage der Royal Ulster Constabulary gedacht werden würde, und dass britische Truppen auf den Straßen Nordirlands erscheinen würden, um wenigstens den Anschein von Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten.
Während die Oranier-Parade unter dem Schutz der Royal Ulster Constabulary mit Getrommel ihren Weg entlang der William Street verfolgte, schallten Beschimpfungen und flogen Steine von den Katholiken hinüber. Die Polizei griff die Katholiken an, und es kam zu einer Schlacht – der „Schlacht von Bogside“, wie sie später genannt wurde.
Der Angriff der Royal Ulster Constabulary wurde mit einem Hagel von Steinen und Molotow-Cocktails beantwortet, und die Brandsätze flogen umso heftiger, nachdem eine Bande von protestantisch-unionistischen Fanatikern zur Attacke gegen die Bogside überging. Das war der Anfang der schwersten Tumulte, die ich je erlebt hatte. Flaschenbomben prasselten auf gepanzerte Polizeifahrzeuge nieder, die die Unbesonnenheit hatten, ins Ghetto einzudringen. Randalierer rannten mit den Brandsätzen bis direkt vor die Polizeilinie, bevor sie
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