The Volunteer. Erinnerungen eines ehemaligen IRA-Terroristen (German Edition)
vergangen waren, erinnerte ich mich deutlich an den Abend, als ich diese patriotische Notiz an die Nachwelt schrieb und dann unter einer Bodendiele auf dem Speicher versteckte.
Der Glattrasierte erzählte, die Polizisten hätten jahrelang den Mülleimer meiner Familie, der draußen stand, geleert und den Inhalt nach Hinweisen auf meine Anwesenheit durchsucht. Er fügte hinzu, sie hätten einen bulligen, zünderkauenden Desperado erwartet und wären ganz enttäuscht gewesen, einen mageren, ernsten und schweigenden Kerl zu erwischt zu haben. Ich wurde wieder auf den Stuhl gedrückt, und er versprach mir, mein Widerstand wäre bis zum Abend garantiert gebrochen. Dann fing er an, Namen meiner Freunde aufzuzählen, die erschossen oder von ihren eigenen Bomben getötet worden waren. Er beschrieb einige ihrer Verletzungen, sagte, er habe noch etwas Tolles für mich, und ging dann hinaus.
Mit einem dicken Aktenordner kam er zurück und fing an, auf dem Tisch vor mir große Schwarzweiß-Fotos von Ethel Lynchs blutverschmiertem, verletzten, zusammengenähten Körper auszubreiten. Die Fotos waren im Leichenschauhaus des Krankenhauses gemacht worden, und man hatte Ethels Augen geöffnet und ihren nackten Körper für die Fotos in verschiedene Stellungen gebracht. Ich konnte es nicht fassen, dass sie diese Fotos eigens für mich gemacht und aufbewahrt hatten, während sie auf den Tag hofften, an dem sie mich verhören würden. Vielleicht bewahrten sie solche Fotos auch immer auf, um sie privat in Armeekreisen herumzureichen. Mir wurde beinahe übel angesichts der schrecklichen Bilder. Der Glattrasierte schrie mich an, dass ich sie ermordet hätte, dass ich nach der Explosion aus der Wohnung abgehauen wäre, dass ich durch meine Feigheit Verrat an ihr begangen hätte, dass ich des Mordes an Ethel angeklagt würde, dass ihre Familie glauben würde, ich hatte Ethel im Stich gelassen, und dass überhaupt jeder in Derry das glauben würde! „Sieh dir den Körper an! Sieh dir die Wunden an! Sieh dir die Stiche an! Du hast sie umgebracht! Du bist ein Feigling! Feigling!“
Langsam wurde ich wütend – so wütend wie schon lange nicht mehr. Ich starrte auf die großen Fotos von Ethels offenen und doch toten Augen, und was auch immer diese Kerle noch versucht hätten, um mir Schmerzen zuzufügen oder mir zu drohen, nichts davon hätte meine Wut übertreffen können. Von diesem Zeitpunkt an war ich unverletzlich. Etwas später beendeten sie dieses Verhör.
Die Uniformierten brachten mich wieder in die Zelle im Untergeschoss, wobei ich weitere Beleidigungen und Drohungen zu hören bekam. Es war mir völlig egal. Das nächste Verhör war eine Formsache. Der Glattrasierte las mir eine Liste von Vorfällen vor, von denen sie glaubten, dass ich damit zu tun gehabt hatte, und fragte mich bei jedem, ob ich etwas dazu sagen wolle. Jedes Mal antwortete ich: „Kein Kommentar.“ Die Prozedur brachte mir aber eine Notiz in Erinnerung, die ein verhafteter Bombenleger aus dem Gefängnis geschickt hatte, ein Gedächtnisprotokoll der Fragen seines Verhörs und was er jeweils darauf geantwortet hatte. Das Ganze lief darauf hinaus, dass er viele seiner Taten mir in die Schuhe geschoben hatte, weil er glaubte, mich würden sie niemals zu fassen kriegen. Er hatte gedacht, nach den Londoner Bombenaktionen würde ich mich nie wieder in der Reichweite der britischen Ordnungskräfte aufhalten. Natürlich ging ich jetzt davon aus, dass eine Menge meiner Anklagepunkte sich auf Aktionen bezogen, die er ausgeführt hatte.
Formell wurde ich danach des Versendens zweier Briefbomben in Derry angeklagt, und man teilte mir mit, meine Gerichtsverhandlung sei definitiv für den nächsten Tag, einen Samstag, angesetzt. Dann durfte mich meine Schwester, die mir endlich Kleidung und Schuhe brachte, kurz besuchen. Mit der formellen Anklage und der Festsetzung des Verhandlungstermins waren die Verhöre jetzt beendet. Der Glattrasierte und der Schnurrbärtige kamen wieder, um sich „inoffiziell“ mit mir zu unterhalten, wobei dieser Ausdruck überhaupt nichts bedeutete. Der eine fragte, warum ich nie Bomben in den Häusern von Polizeioffizieren gelegt hatte. Ich antwortete, die britische Armee und die nordirische Polizei hätten zwar durch Hausdurchsuchungen und Sachbeschädigung Frauen und Kinder von Republikanern gezielt terrorisiert, aber die IRA in Derry hielte es nicht für wünschenswert, die Familien, Ehefrauen und Kinder ihrer Feinde anzugreifen. Daraufhin
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