The Weepers - Wenn die Nacht Augen hat: Band 2 - Roman (German Edition)
Sobald wir die Kanalisation betreten hatten, verlor ich in der Dunkelheit die Orientierung und wusste weder, wo ich hinging, noch wo die anderen waren. Ich kramte im Rucksack nach dem Camcorder, schaltete ihn auf Nachtmodus und konzentrierte mich ganz auf den kleinen Bildschirm. So war die Umgebung weniger Furcht einflößend.
Joshuas Griff um meine Hand verstärkte sich. »Die Kameras hatte ich ganz vergessen. Gut, dass du daran gedacht hast.«
»Warum filmst du das?«, fragte Alexis.
»Naja, um Beweise zu sammeln«, sagte ich. »Wenn wir wieder auf der anderen Seite sind, wollen wir ein Video zusammenstellen. Dann können wir den Menschen auf eurer Seite zeigen, was hier wirklich vor sich geht.«
Es war zu dunkel, um Alexis’ Gesichtsausdruck erkennen zu können, aber ich hörte den Hohn in ihrer Stimme. »Na, viel Glück dabei.«
Der Gestank von Schimmel, Abwasser und Verwesung hüllte uns ein und stach mir in die Nase.
»Marty, kannst du mal Licht machen?«, rief Alexis. Plötzlich erhellte ein scharfgestochener Lichtstrahl die Finsternis. Spinnweben hingen von der Decke und den Wänden. Die dünnen Fäden schienen nach uns zu greifen.
»Wir schalten die Taschenlampen erst ein, wenn wir weit genug in der Kanalisation sind«, sagte Alexis. »Passt bloß auf«, sagte sie und blickte zu den Spinnweben hoch. »Die Schwarzen Witwen sind giftig.«
»Und sie sind überall«, fügte Marty hinzu.
Ich hielt mich näher bei Joshua. Spinnen waren mir noch nie geheuer gewesen, egal in welcher Größe. Vor uns machte der Gang eine Biegung. Kakerlaken huschten bei unserer Ankunft davon. Wir gingen um die Kurve, und der Tunnel wurde enger. Jetzt waren nur noch wenige Zentimeter Luft zwischen meinem Kopf und der schmutzigen Decke. Joshua und Tyler mussten sich so gar ducken.
»Hier ist die Decke nur ungefähr eins siebzig hoch«, erzählte Marty mit leiser Stimme, während ich weiterfilmte. »In manchen Bereichen ist sie sogar noch niedriger. Habt ihr gewusst, dass es unter Vegas fast 300 Meilen Kanalisationstunnel gibt?« Unsere Blicke trafen sich. Er erinnerte mich an einen Welpen, der sein Herrchen Bei fall heischend ansieht.
Ich schüttelte den Kopf. »Wozu dienten sie?«
Begeistert erzählte er weiter: »Nach einem heftigen Regenfall wurde das Wasser durch die Kanäle geleitet, damit die Stadt nicht überschwemmt wurde. Aber keine Angst. Es hat schon länger nicht mehr geregnet.«
»Manchmal leiten die Fabriken auch ihr Abwasser hier durch«, fügte Alexis hinzu. »Das hat schon mehrere Kids hier das Leben gekostet.«
Wir gingen weiter. Hin und wieder mussten wir an den Wänden neben einem etwa einen Meter tiefen Graben entlangbalancieren. Ein flaches Rinnsal floss in seiner Mitte. Das Wasser stank nach feuchten Lappen und Müll und wieder leicht nach Schwefel. Diesmal konnte ich mir nichts vors Gesicht halten – ich brauchte meine Arme, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren und weiterzufilmen.
Schließlich weitete sich der Tunnel, und wir hörten eine Stimme. In diesem Abschnitt war es relativ trocken, und endlich konnten wir auch wieder in der Mitte des einigermaßen ebenen Schachts gehen, der von Glühbirnen an der Decke schwach beleuchtet wurde. Marty warf den Lichtstrahl auf den Kopf eines schmutzigen Teddybären, der an der schimmligen Wand lehnte. Daneben saß ein Junge, der nicht älter als zwölf Jahre sein konnte. Er wirkte völlig abwesend.
»Was ist mit ihm?«, flüsterte ich. Er sah nicht einmal auf, während wir an ihm vorbeigingen.
»Mo? Der hat Klebstoff geschnüffelt«, antwortete Ale xis nüchtern.
Entsetzt sah ich mich noch einmal nach dem Jungen um.
»Quentin mag das nicht«, fügte Marty hinzu. »Deshalb darf Mo auch nicht in unseren Wohnquartieren schnüf feln. Aber ein paar von den Kids können nicht mehr ohne. Daher machen sie es hier.«
»Wer ist Quentin?«, fragte Joshua, der mich hinter sich her zog. Ich starrte weiter den Jungen an. Er war noch jünger als Bobby.
»Unser Anführer«, sagte Alexis.
Wir bogen um eine weitere Kurve und erreichten einen großen Raum. Regale und zusammengewürfelte Möbelstücke standen an den Wänden, Sofas und Sessel in der Mitte. Über zwei Dutzend Jugendliche – manche in mei nem Alter, manche so jung wie Mo – saßen herum und unterhielten sich. Sie sahen auf und starrten uns an. Ich erinnerte mich an den Camcorder und stopfte ihn hastig in den Rucksack. Ein Junge erhob sich von einem Stuhl in der Mitte des Raumes. Wie die meisten
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