Themiskyra – Die Begegnung (Band 1) (German Edition)
desto unwohler, ungehobelter, schwächer fühlte ich mich aber auch. Mein Käsebrot schmeckte mir mit einem Mal nicht mehr.
Ell, was willst du hier? fragte mich mein Verstand irgendwann.
Ich genieße die Gastfreundschaft dieser netten, wehrhaften Frauen?
Gewöhn dich bloß nicht an den Luxus. Das ist nicht deine Welt. Du gehörst hier nicht her.
Nein, gab ich niedergeschlagen zu. Das tue ich nicht. Ich gehöre nirgendwohin. Langsam hob ich den Blick von den Bogenschützinnen zu den Wäldern im Osten. Ich lauschte in die Ferne, horchte in mich hinein, versuchte herauszufinden, ob sie mich riefen, aber mein Herz war zu schwer. Ich schüttelte den Kopf frei von meinen armseligen Versuchen, der Natur meine Bestimmung zu entlocken. Es gibt keine Bestimmung. Es gibt nur mich und die Welt. Und, mit ein bisschen Glück, haben wir irgendwo eine Schnittmenge. Aber sicher nicht hier. Entschlossen stand ich auf, stopfte die Reste des Frühstücks in Papier gepackt in meine Umhängetasche und wollte mich anziehen.
Aber womit? Meine Kleidung war verschwunden. Dunkel erinnerte ich mich daran, dass Polly etwas von einer Wäschetruhe erzählt hatte – und tatsächlich, als ich den Deckel der Holztruhe hob, fand ich meinen Pulli, mein Shirt …
„Ell?“
Ich fuhr herum.
Tetra stand in der Tür, ein paar Stiefel und ein Kleiderbündel in der Hand, und machte eine entschuldigende Geste. „Ich habe angeklopft, aber du hast mich nicht gehört.“ Sie runzelte die Stirn, als sie meine offene Tasche auf dem Bett liegen sah. „Was machst du?“
Ich zuckte hilflos mit den Schultern. „Es ist schon spät am Tag und ich sollte langsam los …“
Sie wirkte betroffen. „Aber du bist doch eben erst angekommen!“
„Ja, und ich bin dir wirklich dankbar für alles, für die Übernachtungsgelegenheit und das gute Essen und dass du mir gestern geholfen hast, natürlich“, sagte ich hastig. „Aber jetzt muss ich wirklich weiter.“ Ich wusste nicht, warum mir diese Worte so schwerfielen, aber ich verlieh ihnen Nachdruck, indem ich energisch in der Truhe nach meinen Socken fischte.
„Ich habe dir etwas Frisches zum Anziehen gebracht.“ Sie schloss die Tür, legte die Kleidung aufs Bett und stellte das lederne Stiefelpaar daneben.
„Danke, auch dafür, aber ich habe ja meine Sachen.“
„Wo willst du denn hin?“
„Zu Verwandten“, schwindelte ich.
„Und wo leben die?“ An ihrem Tonfall konnte ich hören, dass sie mir nicht glaubte, auch wenn ich nicht wusste, wie sie meine Lüge entlarvt hatte. Ich schwieg. „Möchtest du nicht erst mal hierbleiben? Dich ein bisschen erholen?“
Unglaublich gern. „Nein, lieber nicht.“
Tetra legte leicht ihre Hand auf meine Schulter. „Ich halte es für keine gute Idee, wenn du jetzt noch aufbrichst. Bleib noch ein paar Tage.“
Sie klang so eindringlich, dass ich misstrauisch wurde.
Warum will sie nicht, dass ich gehe?
Die nächstgelegenen Dörfer halten uns einfach für eine seltsame Geheimsekte, hörte ich Polly sagen.
Vielleicht, weil es eine ist?
Ich hob den Kopf und sah meine Retterin argwöhnisch an. „Du lässt mich nicht gehen?“
Sie zog rasch ihre Hand zurück. „Wie kommst du denn darauf? Selbstverständlich darfst du gehen. Jederzeit.“ Ihre angespannte Miene sagte das Gegenteil. „Ich denke nur, dass es sinnvoll wäre –“
Sie log. Das verunsicherte mich, aber es machte mich auch wütend. „Warum hast du mich hergebracht?“, unterbrach ich sie.
„Wie hätte ich dich dort zurücklassen können?“, gab sie bestürzt zurück. „Ich habe mich für dich verantwortlich gefühlt. Und das tue ich immer noch.“ In ihrem direkten, klaren Blick erkannte ich Sorge – und auch Schmerz. Und ich wusste, dass sie jetzt die Wahrheit sagte, aber dass noch mehr dahinterstecken musste. War ihr etwa dasselbe passiert wie mir gestern Nacht? Hatte sie deshalb das Gefühl, sich um mich kümmern zu müssen?
„Und was ist mit dem Amulett? Was hat es damit auf sich?“, fragte ich etwas ruhiger.
Sie legte den Kopf schief und betrachtete die Kette um meinen Hals. „Die Hirschkuh auf dem Anhänger … Sie ist der Artemis heilig. Unserer Göttin“, erklärte sie. „Ich hielt es für ein Zeichen – und nahm dich mit.“
„Ich dachte, es sei ein Reh“, brachte ich, überfordert mit soviel Aberglauben, hervor.
Sie lächelte mich an. „Es ist eine Hirschkuh, glaub mir.“
Ich kaute eine Weile auf meiner Unterlippe herum, dann fragte ich vorsichtig: „Wie lange soll
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