Theres
dass nicht nur Essen verschwand, sondern auch Geld, Schmuck, Unterwäsche, ebenso wie eine große Menge der schönen Silberbestecke, die sie von Renate erhalten hatte (die sie ihrerseits von Ulrikes Mutter übernommen hatte). Schwer vorstellbar, dass das Tischsilber in der Großküche der Anstalt Verwendung finden sollte; leichter vorstellbar als »harte Währung« zum Eintauschen gegen anderes. Sie selbst war viel zu beschäftigt gewesen, um über die Sache nachzudenken oder die Warnsignale rechtzeitig zu deuten; Bettina, die gesagt hatte: Hier waren zwei Tanten, die haben nach dir gefragt, und wir haben gesagt, du bist bei Peter, und da haben sie bloß gelacht ; Regine: und nackte Männeken gemalt.
*
Ehrlich gesagt begreife ich nicht, worüber du dir Sorgen machst. Um irgendwelches Zeug! Was hat das denn für einen Eigenwert für dich?
Es geht nicht um die Dinge selbst, Gudrun. Es ist mehr etwas anderes: das Gefühl, keine Kontrolle mehr zu haben.
Aber du hast die Kontrolle. Das hast du doch durch die Tat bewiesen.
Indem man andere schädigt …?
Aber das ist doch nur Scheiß. Erstens glaube ich nicht, dass ein wirklich freier Mensch, indem er frei handelt, jemandem schaden kann – ausgenommen denjenigen, die es möglicherweise verdienen. Worum es hier geht, ist doch, die Wirklichkeit in den Griff zu bekommen. Entschuldige, wenn ich das derart unumwunden zu dir sage. Aber die Wirklichkeit lädt die Menschen nicht zum Bitten und Betteln um Dinge ein, all das ist eine Folge der kapitalistischen Besitzverhältnisse. Was es gibt, sind: die Bedürfnisse, und verschiedene Arten zu deren Befriedigung. Wenn die Mädchen stehlen, ist das im Grunde genommen nur ein gesunder Protest gegen diese Besitzverhältnisse. Schaffe die Verhältnisse ab, und der Begriff Diebstahl verliert seinen Sinn. Ebenso deine Unruhe. Mit Verlaub gesagt, Ulrike: Die scheint mir Ausdruck einer ziemlich patriarchalischen Reaktion zu sein.
*
(SO IST ES:) WENN DER ERDRUTSCH
EINSETZT, SETZT ER LANGSAM, FAST
UNMERKLICH EIN …
*
Ulrike erinnert sich. Auch Bubi hatte gestohlen. Kleine, wertlose Dinge: Glasscherben, glänzende Muttern, Kühlerschmuck, Zuckerstücke und Honigkekse aus den Speisekammern der Hausfrauen. Aberdie Tatsache blieb bestehen: er stahl. Und das ganze Viertel in Jena wusste davon.
Was das Viertel ebenfalls wusste, war, dass es Grund gab, sich vor Bubis Vater in Acht zu nehmen: Es hieß, dass er ein »Denunziant« war, ein großes Wort, das im Prinzip darauf hinauslief, dass er einmal die Woche im SS-Hauptquartier im Rathaus auftauchte, um den hohen Herren seine Mutmaßungen mitzuteilen, wer an den Abenden am Radio saß und BBC hörte.
Frage: Was ist das größere Vergehen: unansehnliche Dinge zu stehlen oder die Menschen um ihr Vertrauen zu bestehlen, indem man sie um alles in ihrem privaten und gesellschaftlichen Leben brachte, das es ihnen ermöglichte, aufrecht zu gehen in einer Zeit, in der von allen erwartet wurde, dass sie den Rücken krümmten?
Weitere Frage: Auf welche Weise wurde das kleinere Vergehen durch das größere bedingt, konnte das eine als gesunde und auf seine Weise vollkommen berechtigte Reaktion auf das andere gesehen werden?
Ja, was antwortest du auf diese Frage, Ulrike?
Ulrike erinnert sich. Bubi, auf der Lichtschwelle stehend, bittend und bettelnd; immer dieses Flehen; selbst wenn es um etwas so Simples ging, wie abends eine Stunde länger draußen bleiben zu dürfen; die Stimme, die von irgendwoher aus den vielen erleuchteten Zimmern blaffte ( Du kommst nach Hause, wie ich gesagt habe, Reinhard ). Sie selbst sollte sich nie von dem Gefühl befreien, dass der eingesperrte Bubi auch ein eingesperrter Teil ihrer selbst war; über den Häusern und Gärten lag irgendwie ein Schatten, wenn er nicht draußen war. Sie erinnert sich auch: dass Bubi der Einzige war, der geweint hat, als Tante Klara weggebracht wurde (wie es hieß: nach Ostpolen in ein Internierungslager). Grund des Weinens: Tante Klara hatte an die Kinder des Viertels oft freigiebig Schokolade verteilt. Grund des Abführens: Bubis Vater hatte nach emsigem Nachforschen herausgefunden, dass Tante Klara, wie man es nannte, »Vierteljüdin« war. Ja, was sagst du, Ulrike?
Ob der Begriff »Diebstahl« in einer Welt, in der Denunziation Gesetz ist, eine andere Bedeutung bekommen kann? Ich weiß nicht, Gudrun; ich muss darüber nachdenken …
*
Während Ulrike »nachdenkt«, spielt sich an einem anderen Ort Berlins ein regelrechtes
Weitere Kostenlose Bücher