Thunderhead - Schlucht des Verderbens
legte die Pflanze aus der Hand. »Und ich hätte mir die Bemerkung über Ihren Vater sparen sollen. Das war nicht nett von mir.«
Dann wandte sie sich an die Gruppe und bemühte sich, die erschreckenden Gedanken zu verdrängen, die Holroyds Pflanze in ihr ausgelöst hatten. »Also ich werde jetzt noch einmal erklären, wie wir vorgehen wollen. Sloane und ich werden uns als Erste in das Kiva begeben. Erst wenn wir es uns angesehen und Fotos gemacht haben, folgt der Rest der Gruppe. Einverstanden?«
Black verzog das Gesicht, aber die anderen nickten.
»Gut. Dann lassen Sie uns loslegen.«
Einer nach dem anderen kletterte die Strickleiter hinauf. Oben in der Stadt überquerten sie den zentralen Platz und stiegen über einen Sandhaufen auf das Dach eines Häuserblocks. Dort gingen sie zu einer perfekt erhaltenen Leiter aus mit Tiersehnen verbundenen Rundhölzern, über die sie auf die Dächer des zweiten Stockwerks gelangen konnten. Dort befand sich das Große Kiva, an dessen Rückseite eine weitere Leiter lehnte. Nora und Sloane stiegen hinauf aufs Dach des Kivas, das aus einer dicken Schicht Lehm bestand und Nora sehr stabil erschien. Wie bei den Anasazi üblich, gelangte man durch ein Loch in der Mitte des Daches ins Innere des Kivas. Auch hier gab es noch eine alte Leiter. Nora spürte, wie ihr Mund vor Aufregung ganz trocken wurde.
Langsam ging sie auf die Leiter zu. »Zünden Sie die Lampe an«, bat sie Sloane.
Nora hörte das Zischen von Gas und das ploppende Geräusch, mit dem die Lampe zündete. Die beiden Frauen knieten sich an das Loch des Kivas und Sloane hielt die Lampe mit ihrem hellweißen Licht hinab.
Die Leiter führte etwa fünf Meter weit nach unten und endete in einer in den Sandsteinboden geritzten Rille. Sloane schwenkte die Lampe hin und her, doch von hier oben aus konnten sie die Wände des Kivas, das immerhin einen Durchmesser von gut zwanzig Metern aufwies, nicht sehen.
»Sie können als Erste hinunter«, sagte Nora.
Sloane sah sie an. »Ich?«
Nora lächelte.
Rasch kletterte Sloane die ersten fünf Sprossen der Leiter hinab. Dann blieb sie stehen und ließ sich von Nora die Lampe geben. Nach zwei weiteren Sprossen begann sie die Wände des Kivas abzuleuchten. Sloanes Gesicht entnahm Nora, dass das Kiva nicht leer war.
Als Sloane am unteren Ende der Leiter angekommen war, atmete Nora noch einmal tief durch und folgte ihr. Staunend sah sie, was das Licht von Sloanes Lampe enthüllte.
Die gerundete Wand des Kivas war mit stilisierten Darstellungen in leuchtenden Farben bemalt. Erst nach längerem Hinschauen erkannte Nora, dass es sich dabei um vier Donnervögel handelte, deren ausgestreckte Flügel fast den ganzen oberen Teil der Wand ausfüllten. Aus ihren Augen und Schnäbeln schössen lange, gezackte Blitze, und unter ihnen ballten sich dichte Wolken, die weiße Wassertropfen auf ein in kräftigem Türkis gemaltes Feld herabregnen ließen.
Durch die Wolken rannte ein Regengott, dessen langer Körper sich fast über das gesamte Rund des Kivas zog. Sein Kopf und seine weit ausgestreckten Hände trafen sich im Norden. Im unteren Teil des Wandgemäldes war die Erde dargestellt. Nora erkannte die vier heiligen Berge, welche die Himmelsrichtungen symbolisierten. Der schwarze Berg markierte den Norden, der gelbe den Westen, der weiße den Osten und der blaue den Süden. Diese Kosmographie fand sich heute noch in vielen Indianerreligionen des amerikanischen Südwestens. Die Malerei war detailreich und exakt ausgeführt, und die Farben, die Jahrhunderte lang in der Dunkelheit geschlummert hatten, kamen Nora so frisch vor, als wären sie erst vor wenigen Tagen aufgetragen worden.
Unterhalb des Gemäldes lief eine steinerne Bank die Wand des Kivas entlang, auf der viele rundliche, im Licht von Sloanes Lampe matt schimmernde Objekte lagen. Mit verhaltener Überraschung stellte Nora fest, dass es sich dabei um Schädel handelte. Es waren Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte von Menschen-, Bären-, Büffel- , Wolfs-, Hirsch-, Puma- und Jaguarschädeln, alle mit Einlegearbeiten aus poliertem Türkis verziert. In den Augenhöhlen der Schädel steckten polierte Kugeln aus Rosenquarz mit blutfarbenen Karneolen in der Mitte. Wenn das Lampenlicht sie streifte, glühten sie rötlich auf und erinnerten Nora an eine Armee von grausig grinsenden Zombies, die sie mit irren Augen anstarrten.
Außer diesen Schädeln befand sich nichts in dem kreisrunden Raum. In der Mitte des Bodens war das Sipapu, das
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