Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
zu erkennen war.
Er sagte mir nicht, daß es dunkel sein würde!
Angst ließ sie zögern, ihre Finger spielten über den Knöpfen des Kästchens an ihrer Hüfte – dessen Töne, so behauptete Herne, einen sicheren Korridor durch die tosende Luft bilden würden.
Hat er mich angelogen?
Doch sie war nicht das Objekt von Hernes verdrehter Leidenschaft, nur ein Abklatsch. Wenn ihre Anwesenheit hier eine Bedeutung für ihn hatte, dann nur als Werkzeug seiner Rache.
Sie ging einen Schritt weiter, dann noch einen, bis sie zitternd am Rande des Abgrunds stand. Der klamme Aufwind überraschte sie und trieb sie auf die Plattform zurück. Er brachte den Geruch des Meeres mit sich herauf, süß-sauer, Fisch und Salz, moderne Fäulnis. Mond schrie überrascht auf, doch ihre Stimme wurde vom Wind verschluckt.» »Herrin!« Wieder strich der Atem des Meeres über sie hinweg und bauschte ihre ungewohnte Kleidung auf. Sie wahrte instinktiv das Gleichgewicht – ein Seemann auf einem schwankenden Deck ... nur ein Seemann, keine Königin .. .
Sie hob den Kopf, und nun sah sie den zitternden und bebenden Vorhang nicht mehr als Wolken, sondern als kapriziöse und unkontrollierbar flatternde Segel, die die Meeresbrise gestrafft hatte. In ihrer Hand, in diesem faustgroßen Kästchen, war das Ruder, das sie sicher über diesen Brunnen des Meeres bringen konnte. Die Aufwinde stießen sie wieder zurück, eine letzte Warnung.
»Ich
werde
gehen.« Sie drückte den ersten Knopf der Tonfolge und spürte augenblicklich, wie die Luft um sie herum stiller wurde. Dann trat sie, geleitet vom Geschick hunderter Generationen, die See und Sand schon lange vor ihr gekannt hatten, auf den Steg hinaus, der von keinem Geländer geschützt wurde, und begann zu gehen. Nach jedem dritten Schritt brachte sie einen weiteren Ton zum Erklingen, wobei sie sich versicherte, daß kein Schritt zu weit oder zu knapp ausfiel, ihre ganze Konzentration galt der Sequenz, dem Muster, dem Rhythmus.
Sie hatte die Mitte des Steges erreicht, das grüne Glühen wurde intensiver, und sie spürte eine namenlose Präsenz, eine klanglose Stimme, ein Echo von einem vergangenen Ort, einer vergangenen Zeit ... das Lied, das die Höhle der Sibyllen zu ihr gesungen hatte. Sie bewegte sich langsamer, bis sie sich überhaupt nicht mehr bewegen konnte, hypnotisiert von der unmenschlichen Schönheit, eine Gefangene des Augenblicks. Ihre Finger auf dem Kontrollkästchen entspannten sich, ihre schrillen, eindringlichen Töne wurden leiser und verblaßten ... Eine plötzliche Bö brachte sie zu Fall, sie landete auf den Knien, ihr eigener Schrei durchbrach den Bann und befreite sie daraus. Sie rappelte sich wieder auf und umklammerte das Kästchen mit hastigen Bewegungen. Von Panik getrieben eilte sie weiter, spürte den Lockruf immer noch in ihrem Geiste hallen, aber leiser.
Sie erreichte das andere Ende und blieb nach Atem ringend am Rande stehen, benommen und verständnislos. Dies war kein Ort der Auserwählten, wie konnte er sie dann aber erkennen? Sie erinnerte sich, daß Danaquil Lu irgendwo in der Stadt von der Sibyllenmaschinerie gerufen worden war. War es derselbe Brunnen des Meeres, der ihn gerufen hatte? Sie schüttelte ihren Mantel aus und trat stumm vom Rand des Schachtes weg, wandte sich vom Anblick der Tiefe ab und verließ den Saal.
Sie wählte einen anderen Korridor und verfolgte die Arterien des Palastdiagramms, das Herne ihr auf Papier aufgezeichnet hatte, damit sie es sich einprägen konnte. Wieder begann sie, Musik zu hören, doch diesmal war es keine überirdische Musik – der Klang eines kharemoughischen Liedes, das von einem Streichquintett gespielt wurde. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Aspundhs Gärten, den schimmernden Schein der Aurora, der über den dämmernden Himmel tanzte. Sie erreichte die breite, teppichbelegte Treppe, die zu der riesigen Halle führte, die fast den gesamten oberen Teil des Palastes einnahm, hörte die Musik, die von oben herunterdrang, und sah zwei verstörte Diener, die sich vor ihr verbeugten und eiligst weiterhuschten.
Auch sie eilte weiter, vorbei an dem Absatz, der zur großen Halle führte, wo die Königin diesen Abend einen Empfang für den Premierminister und seine Delegation gab. Sie ging weiter zum dritten Stock, wo sich, nach Auskunft Hernes, Starbucks Gemächer befanden, obwohl sie wußte, daß er sich wahrscheinlich immer noch in der dichtgedrängten Halle unten befinden würde. Sie wußte auch, daß sie es nicht wagen
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