Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
ihren Bruder schon lange nicht mehr gesehen - auch an diesem Tag nicht, denn er war bereits in die Stadt gegangen. Sie waren sich sowieso nie sehr nahe gestanden.
»Du bist die größte Annäherung an 'nen Freund, die ich heut nacht hab'.« Sie seufzte. »Vielleicht warst du das schon immer.« Sie setzte sich auf eine verlassene Rampe, die mit Abfällen des bevorstehenden Rückzugs übersät war, und fühlte sich behaglich in ihrem alten Overall und ihrer alten Umgebung. »Du hast nie die Geduld verloren, sosehr ich dich auch geplagt und sosehr ich es versucht habe ... Weil - schätz' ich - du dich überhaupt nicht beschweren kannst, also was beweist das schon?« Sie aß ein weiteres Plätzchen. Pollux saß geduldig auf seinem Dreibein vor ihr. Ein rotes Licht begann auf seiner Brust zu blinken. Sie registrierte die Information, ließ sie aber unbeachtet. »Kann man denn nicht wirklich irgendwo in dir Gefühle verletzen? Habe ich dich nie beleidigt oder erfreut oder sowas? Ihr Götter, ich hoffe, ich habe dich nie beleidigt, wo du doch immer nur gut zu mir gewesen bist ...« Sie schnüffelte geknickt.
»Du konntest mich nie beleidigen, Tor.«
Sie betrachtete sein undeutbares Gesicht und bemühte sich, die Meinung hinter seinen tonlosen Worten zu erkennen. »Ist das dein Ernst? Ich meine, ich ... ist das wirklich dein Ernst? Du magst mich?«
»Ich meine ›Ich mag dich‹, Tor. Ja, wirklich.« Das gesichtslose Gesicht sah sie an.
»Tja, was sagt man dazu!« Sie lächelte. »Ich dachte, das wäre unmöglich. Ich dachte immer, du könntest nicht ... fühlen, meine ich. Ich hielt dich immer für ... ah ... naja, gefühllos. - Nichts für ungut«, fügte sie hastig hinzu.
»Ich enthalte einen komplizierten Computer. Tor. Ich bin programmiert, nicht zu richten - abgesehen von Ungerechtigkeit. Aber nicht zu richten kommt mich hart an auf meiner Ebene der Komplexität. Ich benötige konstantes Nachjustieren.«
»Oh.« Sie nickte. »Ich schätze, ich wußte schon immer, daß du mehr als nur 'ne Ladeeinrichtung bist. Ich meine, woher sollte eine Ladeeinrichtung wissen, wie ich mich frisieren soll? Oder ...« Sie verstummte, denn plötzlich kam die Erinnerung zurück. »Oder wie man bei jedem unrechten Wort auf der Straße die Blauen verständigt.« Sie zuckte die Achseln. »Oder wie man mir das Leben rettet. Nicht wahr, Polly . ..?« Sie tätschelte seine Brust. »O ja, wir hatten eine schöne Zeit miteinander. Weißt du noch, als der alte Sturmprinz dich mir übereignet hat? Götter, war ich stolz auf mich! Ich meinte, die Befehlsgewalt über dich wäre der höchste Augenblick meines Lebens, weißt du? Wer hätte sich denken können ... Aber vielleicht war er das auch in vieler Hinsicht. Damals brauchte ich nichts zu bedauern. Jetzt schon.« Sie strich mit einer Hand durch ihr loses Haar. »Ich glaube, es wird lange dauern, herauszufinden, was Persiponë zu sein für mich bedeutete.«
Sie betrachtete ihre Hände, die nun schon längere Zeit keine Schwielen mehr gehabt hatten. »Was bedeutet dieses Blinclicht? Habe ich vergessen, etwas für dich zu tun?« Sie erhob sich unsicher.
»Nein, Tor. Es bedeutet, daß unser Vertrag ausläuft.«
Die Überraschung traf sie hart. »Oh. Ich weiß ... Ich meine, ich weiß, daß er heute nacht ausläuft. Aber ich ... «
Aber ich habe gedacht, vielleicht bemerkt es keiner.
Sie stopfte das letzte Plätzchen in sich hinein und warf die zerknüllte Tüte weg. Soweit sie sehen konnte, bedeckte der Müll des Balls die Straßen. »Möchtest du jetzt ... gehen?«
»Nein, Tor«.« Pollux sah sie ausdruckslos an. »Aber wenn ich mich nicht rechtzeitig im Polizeihauptquartier melde, dann werde ich meine Funktion einstellen müssen und gelähmt bleiben.«
»Oh. Das wußte ich nicht. Dann machen wir uns malbesser auf den Weg.« Sie hielt sich an dem dicken, rechteckigen Arm fest, während sie stadtaufwärts gingen, um ihn nicht zu verlieren. Sie sah sich beim Laufen um, aber das machte sie benommen, und sie mußte den Kopf wieder nach vorn wenden. »Was wird nun aus dir werden, Polly? Wohin wirst du jetzt gehen?«
»Ich weiß nicht, wohin man mich schicken wird, Tor. Aber ich denke, ich werde als erstes mit neuen Informationen reprogrammiert werden. Ich werde alles vergessen, was hier geschehen ist.«
»Was?« Sie stemmte ihre Absätze gegen das Pflaster und brachte ihn so zum Stehen. »Du meinst, du wirst Karbunkel vergessen? Und mich auch?«
»Ja, Tor. Alles Unbedeutende. Alles.
Weitere Kostenlose Bücher