Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
des Schutzkissens um sich herum und sehr darauf bedacht, nicht hinabzusehen.
Funke hob die Flöte an die Lippen und trat ebenfalls auf die Brücke, die fließende Klarheit der Noten entging Starbuck nicht. Zu seiner Überraschung mußte er feststellen, daß es tatsächlich funktionierte – die Musik beschützte den Jungen wie ein Zauberspruch, er konnte sich in einer windstillen Zone bewegen, sein roter Schopf und sein grünes Hemd blieben vom Wind unberührt. Er schien viel Zeit mit der Analyse dieses Ortes verbracht zu haben. Was ihm aber selbstverständlich auch nicht helfen würde.
Kaum hatte der Junge den Rand betreten, preßte Starbuck einen zweiten Knopf. Die transparenten Platten über ihren Köpfen gerieten in Bewegung, der Wind blies plötzlich aus einem unerwarteten Winkel und zerzauste den Hinterkopf des Jungen wie eine Schlange. Er strauchelte und sank am geländerlosen Rand der Brücke auf die Knie. Doch seine Finger ließen die Flöte niemals los, und so konnte er auch diese neue Gegenströmung besänftigen, bis er wieder sicher in der Mitte des Pfades stand. Er kam auf ihn zu, und plötzlich stand ruchloser Zorn in seinem Gesicht geschrieben, eine schrille Tonfolge tanzte ihm voraus, begleitete ihn wie eine Lanze und machte das Wimmern, das aus Starbucks Gürtel schallte, fast unhörbar.
Starbuck taumelte und konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, als der Wind ihm scharf ins Gesicht blies: Wasser trat ihm in die Augen, er blinzelte und konzentrierte sich auf das Sehen, obwohl er eigentlich hätte zuhören müssen. Der Wind traf ihn von hinten und fegte ihn zu Boden. Auf Händen und Knien griff er rasch wieder zu den Kontrollen und stabilisierte seine Zone mit verzweifeltem Geschick, wonach er wieder aufstand. Die Platten knackten und knirschten, als Funke erneut angriff. Wieder war sein Gesichtsausdruck gnadenlos. Es kostete ihn einige Mühe, aber er konnte kontern, schrille Dissonanzen zerrissen die Luft. Er mußte erkennen, daß der Wettkampf doch nicht ganz so einseitig ausfallen würde, wie er anfänglich vermutet hatte. Er hatte der Musik des Jungen noch nie so genau zugehört, daß er sich einen Begriff von ihrer Virtuosität hätte machen können. Er konnte mit seiner verdammten Muschelschale Obertöne erzeugen, und seine Finger waren so geschwind, daß er fast Akkorde spielen konnte – die Ähnlichkeit genügte. Der Junge focht diesen Kampf, als hätte er sich mit all seinen musikalischen Fähigkeiten darauf konzentriert, über die sein Möchtegern-Tech-Verstand verfügte.
Es war ein tödliches Spiel, und von allen Fähigkeiten, über die er, Starbuck verfügte, hatte der Junge das Manipulieren des Windes gewählt, worin er fast keine Übung hatte. Starbuck begann zu schwitzen, und zum ersten Mal, solange seine Erinnerung zurückreichte, fürchtete er um sein Leben. Immer, wenn er sich sicher wähnte, leckte der Wind mit gieriger Zunge an ihm. Er schlug wie von Sinnen zurück und ließ den Sturm von drei Richtungen auf den Jungen los. Dieser schrie überrascht auf, als ihn eine der Böen unerwartet traf und ins Wanken brachte. Aber er blieb auf der Brücke und fand sein Gleichgewicht wieder, ehe ein weiterer Windstoß ihn ins Jenseits befördern konnte.
Starbuck fluchte atemlos. Es gab zu viele Unbekannte. Man konnte unmöglich vorhersehen, was für einen Effekt das Zusammenwirken ihrer unterschiedlichen Tonfolgen erzielen würde, selbst dann nicht, wenn sie einander hinreichend abschätzen konnten. Er kauerte sich zusammen und ging wieder auf Funke zu, wobei er sich grimmig darauf konzentrierte, sich selbst zu schützen, anstatt den anderen anzugreifen. Je näher sie sich waren, desto weniger konnte der Junge es riskieren, die Luftschichten in nächster Nähe durch einen Angriff aufzuwühlen. Wenn er doch nur die Flöte hätte ergreifen und zerschmettern können, damit das alles ein Ende hatte .. .
Eine kalte Wucht riß ihm den Boden unter den Füßen weg, er stürzte und zappelte verzweifelt, als er spürte, wie ein Fuß über den einen Rand des Stegs ins Leere ragte, Kopf und Schultern über den anderen. Einen endlosen Augenblick lang sah er direkt hinunter in die unergründliche schwarze Grube, wo die kaum sichtbaren Spiralen der Maschinenbeleuchtung glitzerten wie das längst erloschene Herz der Schwarzen Pforte, der Geruch des Meeres und das Heulen und Toben der Brise löschten alle anderen Sinneseindrücke in seinem Kopf aus. In diesem Augenblick lag er still und wartend,
Weitere Kostenlose Bücher