Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
lange dauern; offensichtlich hatte er sich geirrt.
Ananke war tatsächlich wieder eingeschlafen; zusammengerollt, den Quoll gegen den Bauch gedrückt, lag er da. Kedalion beneidete ihn um seine Erschöpfung; er selbst war so müde, daß er überall hätte schlafen können ... nur nicht in einer feindlichen Festung, umgeben von Wächtern. Der Umstand, daß man ihnen bis jetzt noch nichts zuleide getan hatte, beruhigte ihn ein wenig, räumte sein Mißtrauen jedoch keineswegs aus. Aus dem Garten unter dem Fenster, der echt oder ein Hologramm sein konnte, ertönte das Tröpfeln von Wasser, monoton wie eine Totenklage. Von fern drangen Geräusche an seine Ohren, fremdartige sowie vertraute, die durch die Korridore hallten und sich im Raum verteilten.
Plötzlich verflüchtigte sich die Tür wieder, die Reede verschlungen hatte, und jemand trat heraus. Die Wachen nahmen Haltung an, und Kedalion riß verdutzt die Augen auf. Zuerst konnte er es nicht glauben, daß er wirklich Reede sah.
Der Mann, der durch die Tür kam, hatte Reedes Gesicht, doch die Haut war aschgrau, und die Augen starrten ins Leere; er bewegte sich wie ein Krüppel, wie jemand, dem man zerbrochen hat.
»Reede?« fragte Kedalion und rüttelte Ananke wach. Mit einem Ruck fuhr der Junge hoch; Reede blieb stehen und stierte seine Gefährten an, Kedalion war sich nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt erkannte. In einer Faust schien Reede etwas festzuhalten. Bis zu diesem Augenblick war Kedalion nie aufgefallen, wie jung Reede tatsächlich war; ohne seine eitle Arroganz wirkte er wie ein verängstigter, schutzbedürftiger Junge. Kedalion wurde übel, als er sich fragte, wer oder was diesen Mann in so kurzer Zeit zu einem Häufchen Elend reduziert hatte.
Der Newhavener, der sie hierhergebracht hatte, ging zu Reede und grinste mit gefletschten Zähnen, als er dessen Verfassung bemerkte. »Gib mir deine Hand!« befahl er barsch; Reede gehorchte. Der Newhavener nahm die Hand und spreizte die Finger auseinander. Dann preßte er etwas gegen die Innenfläche, und Kedalion nahm einen Lichtblitz wahr. Ein Schauer durchrann Reedes Körper, doch sonst reagierte er nicht. »Willkommen an Bord, Kullervo«, sagte der Mann und behielt sein sattes Grinsen bei. Er ließ Reede stehen und ging zu Kedalion und Ananke. Als er sie erreichte, brachte er den Gestank von verbranntem Fleisch mit. Wortlos streckte er die Hand aus.
Genauso schweigend hielt Kedalion ihm seine Hand hin und biß auf die Zähen; er wußte, was jetzt kam. Die meisten von Humbabas Vasallen hatten ein Brandzeichen getragen – aber Reede nicht, und er hatte auch niemanden von seiner Crew als sein Eigentum markiert. Kedalion hielt den Blick auf Reede geheftet, der dastand und seine gebrandmarkte Hand anstarrte. Mit wilder Entschlossenheit sagte sich Kedalion, daß es nicht das Schlimmste war, von ihrem Feind adoptiert zu werden – er konnte sich auch ein anderes Schicksal vorstellen. Er klammerte sich an diesen Gedanken, bis das Brandeisen auf sein empfindliches Fleisch gedrückt wurde. Ein irrsinniger Schmerz durchzuckte seinen ganzen Arm. Er schrie, obwohl er sich geschworen hatte, sich zu beherrschen, und wollte die Hand zurückziehen; doch der Newhavener umklammerte sie wie mit einem Schraubstock, bis die Prozedur beendet war.
Dann ließ er die Hand los; Kedalion fluchte leise, vor Schmerzen war ihm schwindelig. Trotzdem zwang er sich, das Brandzeichen anzusehen. Endlich erfuhr er, wer ihn gefangenhielt, und er kannte den Ruf des Mannes, der die Quelle genannt wurde. Er wandte den Blick von dem schwärzlichen Brandmal ab und schaute wieder zu Reede hin. Dann ging der Newhavener zu Ananke.
Ohne zu zittern, hielt Ananke eine Hand hoch, die andere war zur Faust geballt. Als der Mann seine Finger auseinanderbog, kniff er die Äugen zusammen und biß sich auf die Lippe. Das Brandeisen wurde auf das Fleisch gepreßt; Kedalion schnitt eine Grimasse, als das Licht aufblitzte, und er sah, wie Ananke erschauerte und ihm das Blut über das Kinn lief. Endlich gab der Newhavener ihn frei; mit der unversehrten Hand fischte Kedalion nach einem Taschentuch und reichte es wortlos dem Jungen. Ananke drückte es gegen die blutende Lippe und verbarg sein trotziges Grinsen.
Der Newhavener betrachtete sie eine Weile gleichgültig, ehe er mit dem Kinn auf den Lift deutete. »Kommt mit! Ich zeig euch eure Quartiere.« Zögernd sah Kedalion Reede an; falls man sie trennte, hatte er plötzlich mehr Angst um ihn als um
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