Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
noch das reflektierte, gelbliche Licht reichte bis auf den Grund hinunter, auf dem er stand. Umgeben von den spiraligen Windungen, die der Wind ins Gestein gefräst hatte, kam er sich vor, als stünde er mitten in einer blankpolierten Muschel.
Dann befand er sich auf einem Gletscher, und die Stille war so absolut, daß das Rauschen seines eigenen Bluts ihm in den Ohren dröhnte wie Donner. Er beobachtete, wie die Zwillingssonnen seiner Welt über der schwarzen Bergspitzen am Horizont aufgingen, und die Eiswüste in silbernes Licht tauchte.
Über ihm, auf einem anderen Planeten, brodelte heftig ein aufgewühlter Himmel; elektromagnetische Phänomene tobten in der Atmosphäre, die einem orkangepeitschten Meer glich.
Ein halbes Dutzend Welten, die er erforscht, studiert und für eine Besiedlung zugänglich gemacht hatte, zogen an ihm vorbei. Seit Jahrhunderten war das Entdecken und Kolonisieren von Planeten das Lebenswerk seiner Vorfahren und die Aufgabe der Loge gewesen; und nun war es zu Ende, alles hatte seine Grenzen. Abermals betrachtete er die unter ihm kreisende Welt, die letzte, die er sehen würde. Für ihn wäre es eine ungeheure Herausforderung, sich für immer auf einer Welt niederzulassen, in dem Bewußtsein, daß er sie nie mehr verlassen konnte. Dabei blieb ihm gar nichts anderes übrig.
Wenn er doch nur eine Wahl hätte!
Er spürte, wie sein Gesicht feucht wurde, und zu seiner Überraschung merkte er, daß er weinte.
Die Stimme eines Besatzungsmitglieds meldete sich über die neurale Verbindung, und plötzlich explodierten vor seinen Augen künstliche Sterne; die Verbindung war defekt und nicht mehr zu reparieren. »Ja, was gibt's?« antwortete er halb verlegen, halb gereizt.
»Ein Signal aus der Continuity, Sir.« Die Stimme der Frau klang erstaunt. »Ich dachte ... ich dachte, Sie wollten es vielleicht sofort empfangen.«
Widerstrebend schloß er die Augen, damit er nur noch die Dunkelheit sah. Und dann hörte er das Geräusch, von dem er immer geträumt hatte ... den harmonischen Klang von Astralstimmen, ungemein hell und klar, dazwischen die Stimme eines Fremden, der ihn zu sich rief.
(Dem Ruf folgend, stürzte er in die Finsternis.)
Er war Derrit Khsana, ein niederer Beamter in einer unbedeutenden Diktatur, die das Volk auf einer Welt mit Namen Chilber knechtete ... und er gehörte dem Survey an. Aber er trug keine Uniform, und die Loge, der er zu absoluter Treue verpflichtet war, hatte seit dreihundert Jahren keine neuen Welten mehr erobert.
Sein geheimes Wissen verlieh ihm Sicherheit, und in Gedanken wiederholte er rituelle Formeln, die ihm halfen, ruhig zu bleiben. Zuversichtlich durchschritt er die Säle des Regierungskomplexes, dabei hatte er soeben erst das Herz des Premierministers mit einem nicht nachweisbaren Gift zum Stillstand gebracht. Jetzt war der Weg frei, um die herrschende Partei umzustrukturieren. Ein Vertreter der gemäßigten Linie käme auf den Platz des Premierministers, und nach ein paar weiteren Machtverschiebungen konnten sie die tausend Sibyllen aus ihrem Frondienst für den staatlichen Spionageapparat befreien.
Er hatte seine Sache gut gemacht, und dafür würde man ihn angemessen belohnen, sobald die Sibyllen ihre Weisheit wieder ungehindert unter das Volk bringen durften. Und er nahm den einflußreichen Posten des stellvertretenden Ministers für Finanzen an, der nur die gerechte Belohnung für seinen Einsatz war. Dann machte er die Augen zu und verdrängte den Gedanken an den Tod eines anderen Mannes; die Erinnerung verblaßte angesichts der strahlenden Zukunft, die alles in den Schatten stellte.
Nun sah er eine Frau, die unter ihm auf den Treppenstufen eines einstmals prächtigen Gebäudes kauerte. Er war Haspa, und er trug die karmesinroten Gewänder und die goldene Zackenkrone des Sonnenkönigs .. . während an ihrem Hals das stilisierte Kleeblatt einer Sibylle hing. Die Menschen, die sie umringten (und die ihm erschreckend bekannt vorkamen, als blicke er auf die versammelte Schar seiner Ahnen hinab), brüllten und verlangten ihren Tod. Er hob den Arm, und die Klinge des sakralen Krummschwerts blitzte in der Sonne (er wand sich vor Grausen), als er sie niedersausen ließ: doch nicht, um die Frau zu töten (wer eine Sibylle umbrachte, fiel selbst dem Tod anheim), sondern um seine eigene Pulsader zu öffnen und vor der atemlos gaffenden Menge sein Blut mit dem der Sibylle zu vermischen. Dadurch wurde er selbst ein Sibyl, er wollte die irrsinnige Verfolgung
Weitere Kostenlose Bücher