Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
ihn zu einer halb sitzenden Stellung auf. Ein anderer hielt ihm einen Becher an die Lippen. Gundhalinu trank; es war Bandro, und das stark gewürzhaltige Anregungsmittel brannte in seiner Kehle.
Abermals öffnete er die Augen und blinzelte in die gleißende Helligkeit. Plötzlich merkte er, daß er sich wieder frei bewegen und ohne Hilfe aufrecht sitzen konnte.
Immer noch umringten ihn diese gesichtslosen Gestalten am Rande des Lichtkegels, der allein ihn einschloß. Kopfschüttelnd rieb er sich die Augen, unschlüssig, ob diese Wirklichkeit realer war als die vielen Realitäten, die er in den letzten Minuten – oder waren es Stunden – durcheilt hatte. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren, er war durstig und mußte dringend die Blase entleeren, aber das konnte auch nervös bedingt sein oder an den Drogen liegen, die man ihm verabreicht hatte. Um seine Blöße zu bedecken, raffte er sein Gewand zusammen und schloß beinahe trotzig die Gürtelschnalle.
»Willkommen daheim, Gundhalinu«, sagte eine der Gestalten feierlich.
Gundhalinu forschte nach der Hand, die den Becher mit Bandor gehalten hatte, ihm war jedes Zeichen recht, um diese Wesen voneinander unterscheiden zu können, doch selbst der Becher war verschwunden. »War ich denn fortgewesen?« fragte er mit rauher Stimme.
»Diese Frage kannst du dir selbst beantworten«, sagte jemand. »Die Reise war doch sehr aufschlußreich?«
»Allerdings«, gab er mit scharfer Stimme zurück.
»Dann weißt du jetzt, wer wir sind – und was aus dir geworden ist?«
Von einem konturlosen, flammenden Haupt zum nächsten blickend, schüttelte er den Kopf. »Nein«, murmelte er. Er wollte nichts zugeben, dazu war sein Groll gegen sie noch zu groß.
»Lüg uns nicht an!« Eine der Gestalten trat einen Schritt vor und hielt plötzlich den Lichtstift in der Hand. Unwillkürlich zuckte Gundhalinu zurück. »Du darfst unsere Entschlossenheit oder deine Situation niemals unterschätzen. Wenn wir uns nicht sicher sind jetzt oder in Zukunft –, ob du für uns bist, dann bist du gegen uns, und das kann dich das Leben kosten. Ob du ein Sibyl bist oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Die Gruppe muß überleben. Du hast gesehen, wie einfach es war, dich hierherzubringen. Nichts entgeht uns. Hast du verstanden?«
Gundhalinu nickte stumm.
»Du bist während der Befragung in den Transfer gegangen. War das Absicht? Wo bist du gewesen?«
»Es geschah ohne Absicht«, antwortete er. Er blickte auf seine Hände, deren glatte, brauen Haut mit hellen Flecken übersät war. »Ich wußte nicht, wie es passieren konnte, und ich habe keine Ahnung, wo ich war ... Ich landete an irgendeinem Punkt in der Geschichte.« Er zuckte die Achseln und kehrte die Handflächen nach oben.
»Du bekamst einen Einblick in die Ursprünge des Sibyllen-Netzes, und wie es mit der historischen Survey-Loge verbunden ist.«
»Ja.« Er hob den Kopf und blickte den flammenumkränzten Schatten an, der anstelle eines Gesichts stand. »Ich war ... Ilmarinen.« Dieser archaische Name kam ihm nur schwer über die Lippen.
»Ilmarinen?« murmelte jemand und wurde mit einer Handbewegung zum Schweigen gebracht.
»Ach so«, erwiderte der, der ihn gefragt hatte; doch seinem Tonfall war anzumerken, daß er nicht die erwartete Antwort gegeben hatte.
»Jetzt verstehe ich die Verbindung zwischen dem Survey und den Sibyllen«, fuhr Gundhalinu fort, ehe sie weiter mit verfänglichen Fragen in ihn dringen konnten. Ihm schwindelte, als ihm plötzlich die volle Bedeutung dieser Erkenntnis klar wurde.
Wenn das alles tatsächlich stimmt ...
Doch er war sich bereits sicher, daß es so war. »Gibt es wirklich innerhalb der Survey-Loge höhere Kasten, innere Zirkel, von denen nicht einmal die Mitglieder etwas wissen?«
»Endlich stellst du die richtigen Fragen«, bemerkte jemand.
Gundhalinu schwenkte die Beine über den Rand des Tisches und ließ sie herabbaumeln. Auf diese Weise fühlte er sich seinen Befragern ebenbürtiger. Er machte allerdings nicht den Versuch, sich hinzustellen und sie vielleicht herauszufordern. »Dann hätte ich noch eine Frage, die ihr aber vermutlich nicht hören wollt. Warum gibt es diese Heimlichtuerei noch? Wozu muß es euch überhaupt noch geben? Sibyllen werden nicht mehr verfolgt.«
Außer auf Tiamat.
Die Gestalt hob die Schultern. »Überall und zu jeder Zeit gibt es Entwicklungen in der Geschichte, die den Fortschritt der Menschheit behindern oder sogar zerstören. Schon vor den Sibyllen hatte es
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