Tiefe
wieder. Abwesend fingerte er an dem blau-gelben Seidenband.
Mehr Menschen als je zuvor werden ertrinken, dachte Lars Tobiasson-Svartman. Matrosen und Kommandanten werden in dem brennenden Inferno zu Tode kommen. Die Ostsee, die Nordsee, der Atlantik, vielleicht auch noch andere Meere werden von Schreien erfüllt sein, die langsam erstickt werden und verstummen.
Tausend Seeleute wiegen etwa sechzig Tonnen. Im Krieg geht es nicht nur darum, wie viele Menschen fallen. Es geht auch darum, daß eine große Anzahl lebender Tonnen in tote Tonnen verwandelt wird.
Man spricht vom toten Gewicht eines Schiffs. Auch das Gewicht eines Menschen kann in die Maßeinheiten des Todes umgerechnet werden.
Er verließ den Salon.
Zerrissene Wolken jagten über den Oktoberhimmel. Er dachte an den Auftrag, der ihn erwartete. Zugleich fragte er sich, ob Rake recht habe. Würde der Krieg so entsetzlich und lang werden, wie er es prophezeit hatte?
Das Schiff drosselte die Geschwindigkeit und legte sich langsam in den Wind. Er sagte sich, daß es beidrehte, um auf das Kanonenboot zu warten, das Rudin nach Norrköping bringen sollte.
Er ging weiter zu seiner Kajüte. Dort legte er die Uniformjacke ab, schnürte die Schuhe auf und streckte sich in der Koje aus. Jemand hatte das Bett gemacht, während er bei Rake war.
Er lag mit den Händen unter dem Kopf, fühlte die schwachen Vibrationen, die durch das Schiff pulsierten, und durchdachte das, was ihn erwartete.
Es war wie ein Ritual.
Ein neuer Auftrag mußte nicht unbedingt erschreckend sein, weil er geheim war. Was er vor sich hatte, würde von Routine geprägt sein, nicht von unvorhersehbaren dramatischen Ereignissen.
Er haßte Unordnung und Chaos. Die Meerestiefen zu kartieren erforderte eine große Ruhe, eine fast meditative Stille.
In Friedenszeiten werden die neuen Kriege vorbereitet, dachte er. Die schwedische Flotte hatte seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine große Anzahl von Expeditionen losgeschickt, um entlang der schwedischen Küsten alternative Fahrwasser ausfindig zu machen. Einige dieser Expeditionen waren schlecht organisiert und unzulänglich geführt, andere waren erfolgreich.
Der Ausgangspunkt war einfach. Ein Angreifer konnte Blockaden vorbereiten, in den letzten zehn Jahren vor allem durch Minen. Und zwar in den Fahrwassern, die auf den öffentlichen Seekarten angegeben waren und von den verschiedenen Handelsflotten genutzt wurden. Um dem entgegenzuwirken, gab es ein Netz von geheimen alternativen Fahrwassern und Strecken für militärische Zwecke. Die Angst davor, daß Spione an Informationen über die Fahrwasser kommen könnten, war groß und durchaus berechtigt. Ein Angreifer, dem es gelang, die geheimen Fahrwasser aufzudecken, würde großen Schaden anrichten können. Da der Tiefgang der Schiffe ständig größer wurde, mußten die Strecken der Fahrwasser überprüft werden. Gab es alternative Fahrwasser, die einen größeren Tiefgang erlaubten? Konnten Untiefen, welche die Befahrbarkeit verringerten, heimlich weggesprengt werden, ohne daß es auf den Seekarten angegeben wurde?
Das waren die Fragen, die er beantworten sollte. Außerdem sollte er erwägen, was die Anwesenheit von Unterwasserschiffen bedeutete. Es herrschte kein Zweifel daran, daß die U-Boote eine völlig neue Gefahr mit anscheinend endlosen Konsequenzen darstellten. Aber wie konnte man sie aufhalten? Wenn die Fahrwasser tief genug waren, würde ein U-Boot sich bis nach Stockholm hineinbewegen können.
Er dachte zurück an die Jahre zwischen 1909 und 1912, als er an den Fahrwassermessungen in den inneren Schären zwischen Landsort und Västervik teilgenommen hatte. Anfangs hatte er eine untergeordnete Stellung innegehabt, war aber später, im Frühjahr 1910, in kurzer Zeit zum Befehlshaber der gesamten Expedition aufgerückt.
Es war eine glückliche Zeit gewesen. In wenigen Jahren war eine große Anzahl seiner Träume in Erfüllung gegangen.
Aber er hatte auch erkannt, daß er einen ganz anderen Traum hatte. Einen unerwarteten. Aber es war dieser Traum, den er jetzt zu verwirklichen hoffte.
Der Traum, die größte aller Tiefen zu finden.
Die Vibrationen im Rumpf nahmen ab. Das Panzerschiff lag ganz still.
Das Tier hielt den Atem an.
Er zog die Uniformjacke an, ging hinaus an Deck und stellte sich an den Platz, an dem er unsichtbar war. Das Kanonenboot Thule mit seinen drei Schornsteinen legte im Lee der Svea an. Der kranke Besatzungsmann war schon an Deck getragen worden und wurde
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