Tiefe
wirkte.
Kristina Tackers Mutter glich den Figuren, die in der Wohnung auf den Regalen standen. Würde Frau Martina Tacker auf einem Teppich oder einem glatten Boden umfallen, würde sie sich nicht nur verletzen, sondern zerbrechen wie eine Porzellanskulptur.
An der Tafel am ersten Weihnachtsfeiertag 1914 waren vierunddreißig Personen versammelt. Lars Tobiasson-Svartman war zwischen einer von Kristina Tackers
Weg zu klettern, um auf die begehrten Plätze nah bei seinem Schwiegervater zu kommen. Die ältere Frau an seiner rechten Seite war asthmatisch und hatte Atembeschwerden. Außerdem war sie schwerhörig. Sie antwortete nicht, als er sie anredete. Ob sie ihn nun nicht hörte oder es nicht der Mühe wert fand zu antworten, konnte er nicht entscheiden. Hin und wieder rief sie jemandem auf der anderen Seite des Tisches etwas zu, meist eine Strophe aus einem Gedicht von Snoil-sky, und erwartete den nächsten Vers als Antwort.
Auch mit der Schwägerin, die streng religiös war, gelang es ihm nicht, ins Gespräch zu kommen. Sie war tief in sich selbst versunken und rührte das Essen, das serviert wurde, kaum an.
Es war, als wäre er auf einem Riff gestrandet.
Er trank viel Wein, um es zu ertragen. Er sah zu seiner Frau hin, die etwas weiter oben an der gegenüberliegenden Tischseite saß. Sie trug ein Kleid in Minzgrün, ihr Haar war dekorativ aufgesteckt.
Ab und zu kreuzten sich ihre Blicke, scheu, als würden sie einander nicht kennen.
Beim Nachtisch, einer vorzüglichen Zitronenspeise, hielt Ludwig Tacker seine traditionelle Weihnachtsansprache. Er hatte eine dumpfe und heisere Stimme, sein Gesicht war hochrot, obwohl er nie viel trank, und er legte eine große Kraft in seine Rede, mit der er sich, wie Lars Tobiasson-Svartman argwöhnte, im vergangenen Jahr vorwiegend beschäftigt hatte. Er lebte für die Reden, die er vor der versammelten Familie hielt. Jedes Jahr legte er fest, welche Wahrheiten gelten sollten. Es war wie eine Thronrede, die für die gehorsamen Untertanen verlesen wurde.
In diesem Jahr sprach er von dem großen Krieg. Daß er sehr deutschfreundlich war, wunderte Lars Tobiasson-Svart-man nicht. Aber Ludwig Tacker bezog nicht nur Stellung für Deutschland in diesem Krieg. Er schöpfte aus schier unendlichen Quellen seinen Haß auf Engländer und Franzosen, und das russische Reich tat er ab als »ein morsches Schiff, das sich nur durch all die Leichen in der Ladung über Wasser hält«.
Ich habe einen Schwiegervater, der wirklich hassen kann, dachte er. Was geschieht, wenn er merkt, daß ich diesen Haß nicht teile?
Während der Rede schaute er zu seiner Frau. Plötzlich wurde ihm klar, daß er überhaupt nicht wußte, welche Einstellung sie zum Krieg hatte.
Die Sätze erreichten sein Bewußtsein nicht länger. Ich kenne meine Frau nicht, dachte er. Ich teile Bett und Tisch mit einer unbekannten Frau.
In weiter Ferne sah er Sara Fredrika. Sie glitt ihm entgegen, die Tafel war verschwunden, er befand sich wieder auf Halsskär.
Erst als nach der Rede ein Toast ausgebracht wurde, kehrte er an den Tisch zurück. Nach dem Essen sollte jetzt der Kaffee im Salon serviert werden.
Die Weihnachtstage vergingen. Am 27. Dezember fand Lars Tobiasson-Svartman sich wie verabredet auf Skeppsholmen ein. Er wartete ungeduldig in dem kalten Korridor, um vorgelassen zu werden und seine Instruktionen zu erhalten. Aber kein Adjutant kam, um ihn zu holen.
Plötzlich flog die Tür auf, und Vizeadmiral H:son-Lydenfeldt bat ihn herein. Er war allein im Zimmer. Der Vizeadmiral setzte sich und bedeutete ihm, dasselbe zu tun. »Der Marinestab hat kurzfristig beschlossen, in diesem Winter keine Seevermessungen mehr durchführen zu lassen. Alle Schiffe werden für die Bewachung unserer Küsten und als Eskorte für die Handelsflotte gebraucht. Der Beschluß wurde von Admiral Lundin getroffen und gestern spätabends von Marineminister Boström bestätigt.«
Der Vizeadmiral verstummte und betrachtete ihn. »Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«
»Ja.«
»Man kann natürlich einwenden, daß ein paar Wochen für Bohrungen im Eis keine schädlichen Einwirkungen auf die Schlagkraft unserer Flotte haben könnten. Aber der Beschluß ist gefaßt.«
Der Vizeadmiral zeigte auf einen Umschlag, der auf dem Tisch lag. »Ich bin der erste, der es bedauert, daß die Seevermessungen auf unbestimmte Zeit eingestellt werden. Auch wenn ich es persönlich vorziehen würde, Anfang Januar nicht auf dem Eis zu sein und Bohrungen
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