Tier zuliebe
bereit ist. Ich tröste mich damit, dass es genügend Menschen gibt, die sich auch über diese Beilagen freuen würden. Ich höre meine Oma noch sagen – wie das wahrscheinlich jede Oma beim Anblick eines nicht aufgegessenen Tellers gerne sagte: »Denk an die armen Kinder in Afrika.« Es war mir als sechsjähriges Mädchen nie so richtig klar, was sie davon haben sollten, wenn ich meinen Teller aufesse – aber jetzt hat der Satz eine andere Bedeutung: runter vom Luxus, verzichten und dadurch anderes schätzen lernen.
Das zweite Gansessen steht an. »Natürlich komme ich!«, antworte ich auf die mitfühlend anmutende Frage, ob ich mich den Gefahren einer »Gans-Zeremonie« wirklich aussetzen möchte, man würde auch verstehen, wenn ich mich nicht quälen wolle. Wenn ich aber käme, würde man sich freuen, und die Gastgeberin stellt mir sogar einige Ersatzprodukte aus Tofu in Aussicht, die noch von ihrem mittlerweile flügge gewordenen Sohn, auch ein Vegetarier, übrig seien. Nun zeige ich genau die Reaktion, die mir Monate zuvor bei anderen Vegetariern noch Rätsel aufgab. Ich winke nämlich ab mit den Worten: »Lass mal, mach dir keine Umstände. Ich finde Rotkraut und Kartoffelknödel absolut ausreichend.« Auch ich will keinem zur Last fallen und habe den Anspruch an mich selbst, genügsam zu sein. Einmal mehr erinnere ich mich daran: Verzicht und die Erfahrung, wie es einem damit geht, ist Teil der Metamorphose, an deren Ende man sicherer und stärker ist als vorher. Reduktion heißt der Trend.
Dann ist es so weit: Die Kürbissuppe, die ich zum Gansessen mitbringen soll, ist fertig und ich bin sehr zuversichtlich, dass der Abend nicht nur anregende Gespräche bringen wird, sondern – auch ohne Gans – kulinarische Genüsse. Schließlich weiß ich am besten, wie köstlich meine Kürbissuppe schmeckt. Mit dem Topf bewaffnet werde ich in der Altbauwohnung meiner Freundin Richtung Küche geleitet. Hier herrscht reges Treiben, denn jeder hat irgendeine Aufgabe. Bei den im Vorfeld angepriesenen Tofu-Produkten zeigt sich gerade, dass das Verfallsdatum vor ungefähr einem Jahr abgelaufen ist. Aber dafür hat Freund K. eigens für mich ein Extraportion Rotkraut mitgebracht, denn das Kraut, das er für die übrigen Gäste zubereitet hat, wurde mit einer saftigen Portion Gänseschmalz verfeinert. »Aber es soll das Beste weit und breit sein!«, sagt K. und zeigt auf das Gläschen, dessen Inhalt dann auch in einem eigenen Töpfchen für mich erwärmt wird. Der einzige andere Vegetarier im Freundeskreis erscheint nicht. Schade. Ich hätte gerne einmal jemanden an meiner Seite gehabt zum gemeinschaftlichen Leiden. Wobei: Vielleicht hätte er ja gar nicht gelitten. Nicht jeder Vegetarier leidet, es soll auch durch und durch glückliche geben – selbst wenn ihr Blick auf eine knusprig gebackene Gans gerichtet ist.
Beim gemeinsamen Essen merke ich, dass ich einen großen Schritt weiter bin: Das erste Gansessen ohne Gans war deutlich härter als das zweite. Es war sozusagen die Feuertaufe. Diesmal male ich mir nicht mehr aus, wie es sich anfühlt, ein saftiges Stück Fleisch zu zerkauen, wie die Sauce wohl schmeckt … Ich muss keine Bilder von glücklichen Gänsen herbeizaubern, die hinterlistig ermordet werden, um den Appetit auf Fleisch loszuwerden. Ich bin wie ein trockener Alkoholiker, der kein Problem damit hat, Flaschen vor sich stehen zu sehen, weil es für ihn schlicht kein Thema mehr ist. Jetzt bin ich also gerüstet: Von mir aus können weitere Gansessen folgen.
Zu dieser Zeit erreicht Deutschland die Nachricht einer Begnadigung. Die Truthähne »Apple« und »Cider« verdanken es US-Präsident Obama, dass sie das Jahr 2010 überleben. Beide »Prachtexemplare«, wie sie in den Medien genannt werden, wiegen je rund 20 Kilo und waren als Festtagsbraten für Thanksgiving auserkoren. Stattdessen wurden die Tiere in einer traditionellen Zeremonie im Rosengarten des Weißen Hauses begnadigt. Die erste dieser alljährlichen präsidialen Truthahnbegnadigungen fand im Jahr 1863 statt, als Tad, der zehnjährige Sohn von Abraham Lincoln, seinen Vater bat, den liebgewonnenen designierten Thanksgiving-Braten »Jack« am Leben zu lassen. Die Geburtsstunde einer schönen Tradition, bliebe da nicht ein bitterer Beigeschmack: Einerseits lässt man Gnade walten, andererseits wurden zu Thanksgiving 2010 gnadenlos rund 45 Millionen Truthähne geschlachtet.
Das Beispiel von Tad Lincoln, genauso wie die vegetarische Phase meines
Weitere Kostenlose Bücher