Tierarzt
dreißig Kubikzentimeter.«
Ich ließ das Chloroform auf den Schwamm im Vorderteil der Maske tropfen. Das Tier atmete ein paarmal, ohne daß etwas geschah, dann öffneten sich seine Augen weit vor Überraschung, als der seltsame, betäubende Dampf in seine Lungen drang.
Der ganze Bereich des entzündeten Auges war deutlich zu sehen – auf der dunklen Hornhaut lag ein breites goldgelbes Stück Häcksel. Es dauerte den Bruchteil einer Sekunde, dann hatte Siegfrieds Pinzette es ergriffen und entfernt.
»Tu etwas von dieser Salbe hinein, Tristan«, sagte mein Partner. »Und nehmen Sie ihr die Maske ab, James, ehe sie zu taumeln anfängt.«
Nachdem der störende Fremdkörper aus ihrem Auge verschwunden war, blickte die Kuh sich ungeheuer erleichtert um. Die ganze Prozedur hatte höchstens ein, zwei Minuten gedauert und war so glatt und elegant vor sich gegangen, wie man es sich nur wünschen konnte, aber Mr. Kendall schien durchaus nicht weiter beeindruckt.
»Das hätten wir«, brummte er. »Dann wollen wir weiter.«
Die Kuh mit dem Tumor stand direkt neben der Stalltür. Das Gewächs war in der Dammgegend; glatt und rund wie ein Apfel trat es am Hinterteil, ein paar Zentimeter rechts vom Schwanz, deutlich hervor.
Mr. Kendall schien in bester Stimmung. »Jetzt wollen wir mal sehen, was Sie können und wie Sie das Ding da wohl wegkriegen«, rief er begeistert. »Ganz schön groß, was? Dafür brauchen Sie bestimmt ein Tranchiermesser oder eine Metallsäge. Müssen das Tier wahrscheinlich betäuben oder festbinden oder so?« Er grinste und sah uns der Reihe nach an.
Siegfried streckte die Hand aus und tastete durch die Geschwulst. »Hm... ja... hm... würden Sie mir bitte Wasser, Seife und ein Handtuch bringen?«
»Ja, sofort.« Der Bauer eilte hinaus und holte das Gewünschte.
»Vielen Dank«, sagte Siegfried. Er wusch sich die Hände und trocknete sie gemächlich ab. »Ja, soviel ich weiß, haben Sie noch einen weiteren Patienten für uns. Ein Kalb mit Durchfall, war’s nicht so?«
Der Bauer riß die Augen auf. »Ja, richtig. Aber wollen Sie nicht erst diesen großen Knoten hier wegmachen?«
Siegfried faltete das Handtuch zusammen und hängte es über die Trennwand. »Ach, den Tumor hab ich schon entfernt«, sagte er ruhig.
»Ja, aber...« Mr. Kendall blieb das Wort im Munde stecken. Er starrte auf das Hinterteil der Kuh. Wir alle starrten dorthin: Kein Zweifel – die Geschwulst war verschwunden. Nicht einmal eine Wunde oder Narbe war zu sehen. Kein Tropfen Blut – nichts.
»Ja«, sagte Mr. Kendall unschlüssig. »Sie haben... Sie haben sie entfernt, ja, das stimmt.« Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden, und er kam mir mit einemmal viel kleiner vor. Da er sonst immer alles wußte und durch nichts zu verblüffen war, konnte er jetzt unmöglich fragen: »Wie, zum Teufel, haben Sie das gemacht?« Er mußte um jeden Preis das Gesicht wahren, aber er war verwirrt. Seine Blicke schossen im Stall umher, an der Dungrinne entlang. Nirgendwo lag etwas auf dem Boden. Unauffällig stieß er mit dem Fuß einen Melkschemel beiseite – nichts.
»Nun, dann wollen wir uns jetzt das Kalb ansehen.« Siegfried wandte sich ab.
Mr. Kendall nickte. »Ja... das Kalb. Da drüben in der Ecke. Ich räum nur noch den Eimer weg.«
Es war eine durchsichtige Ausrede. Er holte den Eimer, und als er an der Kuh vorbeikam, zog er hastig seine Brille heraus, setzte sie auf und warf einen mehr als prüfenden Blick auf das Hinterteil der Kuh. Nicht lange, denn er wollte kein allzu großes Interesse zeigen, aber als er sich uns wieder zuwandte, lag auf seinem Gesicht ein Ausdruck äußerster Verzweiflung, und er nahm tief bekümmert seine Brille ab.
Als er zu uns herüberkam, drehte ich ihm den Rücken zu und fragte meinen Partner leise: »Wo, zum Teufel, ist es?«
»Oben in meinem Ärmel«, murmelte Siegfried, ohne eine Miene zu verziehen.
»Was...?« setzte ich an, aber Siegfried kletterte bereits über das Holzgitter in den provisorischen Verschlag, in dem das Kalb sich befand.
Während er das kleine Tier untersuchte und ihm eine Spritze gab, schien er bester Laune zu sein. Er war auffallend gesprächig, und wenn Mr. Kendall ihm auch heroisch lächelnd Rede und Antwort stand, verrieten sein geistesabwesendes Gebaren und der gequälte Blick, den er wiederholt ungläubig über den Boden des Stalls in Richtung Kuh schweifen ließ, daß auf ihm ein ungeheuerlicher Druck lastete.
Siegfried ließ sich Zeit mit dem Kalb, und
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