Tiffany Duo 48
Intelligenzquotienten
gleich Null. Er brachte den Jaguar zum Stehen und spürte deutlich, wie der Wagen
noch ein gutes Stück weiterrutschte, um dann mit einem dumpfen Laut gegen die
Mauer zu stoßen. Wütend zog Nicholas den Zündschlüssel und stieg aus. Die
Eingangstür war unverschlossen. Einen Moment lang blieb er im hellen und warmen
Flur stehen. Im Büro war niemand, aber aus dem hinteren Teil des Hauses ertönte
Musik. Wenigstens glaubte er, es müsse sich dabei um Musik handeln. Er schüttelte
sich den
Schnee aus dem Haar, trat mit gesenktem Kopf durch die niedrige Tür und ging in
die Richtung, aus der der Lärm kam.
Sybil saß in der Hocke und betrachtete skeptisch die Auslage mit den
Wünschelruten. Die kleinen aus Messing mochte sie am liebsten, man konnte sie in
die Handtasche tun und jederzeit griffbereit zur Verfügung haben. Aber sie paßten
nicht in das Regal, das sie für die längeren, L-förmigen Ruten gezimmert hatte, und
einfach nur so, auf den Ladentisch, wollte sie sie auch nicht legen. Sie nahm eine
davon und wog sie leicht in ihrer Hand. Mit Wünschelruten hatte sie etwas mehr
Erfolg als mit Pendeln, aber auch nicht viel.
Mit einer ruckartigen Bewegung schlug die Rute nach rechts aus. Sybil folgte ihr mit
dem Blick und sah, daß sie auf ein paar schneebedeckte Schuhe zeigte. Langsam ließ
Sybil ihren Blick nach oben wandern, an zwei langen Jeansbeinen und einem dicken
Wollpulli empor, auf dem die Schneeflocken glitzernd zu schmelzen begannen, bis
hin zu dem Gesicht. Und in dem Moment entfuhr ihr ein erstickter Schreckenslaut.
Ihr wir, als sähe sie den Leibhaftigen persönlich.
Der Mann stand reglos da und beobachtete sie, und die plötzliche Stille verstärkte
Sybils Unbehagen noch. Wie gelähmt starrte sie zurück. Er hatte ein schmales
Gesicht von düsterer Attraktivität, eine markante Nase, einen schmalen, aber doch
sinnlichen Mund und die Verwirrendesten Augen, die sie je gesehen hatte. Sie
hatten die Farbe von Topas und wirkten seltsam glühend. Das Haar des Fremden
war schwarz und länger, ob es zur Zeit Mode war, der Haaransatz bildete genau in
der Mitte der Stirn eine kleine Spitze. Die Augenbrauen waren ebenfalls schwarz
und von kühnem Schwung, so daß die darunter liegenden Augen noch
ungewöhnlicher wirkten. Noch immer sagte der Mann kein Wort, sein Blick schien
sie hypnotisieren zu wollen. Sybil schluckte.
"Sie müssen Sybil sein." Das Unwirkliche des Augenblicks verflog, als der Mann nun ins Zimmer trat, und Sybil erkannte, daß er wirklich nur ein ganz normaler Mann
war, wenn auch ein außergewöhnlich gutaussehender. Und ein äußerst schlecht
gelaunter noch dazu. "Wird hier eigentlich nirgends Salz gestreut? Die letzten
dreißig Meilen bin ich auf blankem Eis gefahren!"
"Salz schadet der Umwelt", erwiderte Sybil zerstreut. "Ja, ich bin Sybil Richardson.
Und wer sind Sie?" Was für eine überflüssige Frage. Sybil brauchte keine
übersinnlichen Fähigkeiten, um zu wissen, wer er war, und um zu erkennen, daß sie
sich vorher ein völlig falsches Bild von ihm gemacht hatte.
"Ich bin Nicholas Fitzsimmons. Wen haben Sie denn sonst an einem so scheußlichen Abend erwartet?" fuhr er sie an. Trotz seiner Gereiztheit klang seine Stimme
überaus angenehm. Sie war tief, melodisch und ebenso faszinierend wie der
Ausdruck seiner Augen. Inzwischen allerdings blickten diese Augen so ungehalten,
daß sie in Sybil nichts mehr außer Ärger hervorriefen.
"Man kann nie wissen", antwortete sie heiter. Sie legte die Messingrute wieder ins Regal zurück und stand auf. Auch bezüglich der Größe hatte ihre Familie ihr einiges
voraus, sie war die kleinste von ihnen. Angesichts dieses Riesen vor sich brach
wieder ihr Minderwertigkeitskomplex durch. "Das mit den Straßenverhältnissen tut mir leid, aber wie Ihnen vielleicht klar sein dürfte, bin ich nicht schuld daran."
Er schien sich zusammenzureißen. "Natürlich nicht, Sie haben recht", räumte er widerwillig ein. "Sie können nichts dafür."
"Außerdem ... " fügte sie mit einer Spur Boshaftigkeit hinzu, "... so schlimm ist es nun auch wieder nicht draußen."
"Wann waren Sie denn zuletzt draußen, Miss Richardson?" fragte er frostig.
"Vor einer Stunde", log Sybil.
"Warum waren dann vor dem Haus keine Reifenspuren im Schnee?"
Sybil schmunzelte. "Ich habe das getan, was ich bei schlechtem Wetter immer tue, Mr. Fitzsimmons - ich bin auf meinem Besen geflogen!"
"Sehr witzig", bemerkte er
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