Tiffany Duo Band 77
noch mehr Fragen erwartet, die sie immer weiter verstören und dazu beitragen würden, daß sie sich tiefer und tiefer verstrickte, daß sie gefangen war wie eine Fliege im Spinnennetz.
Er berührte sie zart. Ganz zart. Seine Lippen streiften die ihren so sacht wie eine Schneeflocke, die in einer stillen Winternacht vom Himmel fällt, und es erschien ihr verheerender als alles, was an diesem Tag geschehen war. Gleich darauf war es vorbei, er sah ihr noch einmal tief in die Augen, und dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloß.
11. KAPITEL
Die Beerdigung war am Freitag, und die halbe Stadt war auf den Bei nen. Charlie hätte fast sein ganzes Leben hier verbracht, er war bekannt und beliebt gewesen. Man wird ihn vermissen, dachte Shelly, und sie empfand diesen Gedanken als tröstlich.
Charlies Frau war nicht zum Begräbnis gekommen. Der Arzt war sich ziemlich sicher, daß sie überhaupt nicht verstand, was geschehen war, obwohl sie zu spüren schien, daß sich etwas verändert hatte.
Shelly stand allein am offenen Grab. Die Beerdigungszeremonie war beendet und die Menschenmenge war dabei, sich langsam zu zerstreuen. Shelly starrte erst auf das bunte Blumenmeer und die Kränze, dann hinunter auf Charlies Sarg, wobei ihr Erinnerungen an vorangegangene Begräbnisse, das ihrer Mutter und das ihres Vaters, wie Nebelfetzen durch den Kopf gingen.
Sie fragte sich, wie oft sie wohl noch in ihrem Leben so wie jetzt vor einem Grab stehen würde, um einem geliebten Menschen Lebewohl zu sagen. Und plötzlich wurde ihr klar, daß sie nun überhaupt niemanden mehr zu verlieren hatte, der ihr nahestand. Niemanden, bis auf...
Sie schloß die Augen, senkte den Kopf und verabschiedete sich in Gedanken von Charlie.
Als sie den Blick wieder hob, fiel er auf die Totengräber, die ein wenig abseits standen und darauf warteten, ihre Arbeit vollenden zu können. Sie umklammerte die Rose, die sie aus ihrem Bukett herausgezogen hatte, um sie ins Grab zu werfen, so fest, daß die Dornen ihre Fingerspitzen zerstachen und sie vor Schmerz zusammenzuckte und leicht taumelte.
Brian sah es und sprang hinzu, zog die Stacheln aus ihrer Hand und wischte die kleinen hellroten Blutströpfchen, die sich gebildet hatten, vorsichtig ab.
Sie hatte gewußt, daß er da war. Daß er auf sie wartete. Als sie ihn
nach Beendigung der Feierlichkeiten gebeten hatte, sie einen Moment allein zu lassen, hatte sie so etwas wie Unduldsamkeit in seinen Augen aufblitzen sehen. Gerade so, als ob er gespürt hätte, daß sie sich nichts sehnlicher wünschte, als ein Stück Distanz zwischen ihnen zu schaffen. Und das hatte ihm ganz und gar nicht behagt, doch selbstverständlich hatte er ihren Wunsch respektiert.
Einen Moment lang hielt er nun ihre Hand, dann gab er sie frei und sagte: „Komm, laß uns gehen."
„Nein, ich möchte noch ein bißchen bleiben." In der Entfernung hörte sie das Zuschlagen von Autotüren, Motoren heulten auf. Draußen vor dem Friedhof war wieder der Alltag eingekehrt. Die schwarz-gekleideten Männer mit ihren Schaufeln kamen näher, blieben dann aber doch in einigem Abstand noch einmal stehen. Sie wußte, daß es Zeit war, zu gehen.
„Komm, Shelly." Diesmal wartete er ihre Antwort nicht ab, sondern legte ihr den Arm um die Schultern und drängte sie sanft vorwärts. Als sie langsam den Weg entlang zum Ausgang gingen, hörte sie hinter sich das dumpfe Poltern der Erdschollen, die auf den Sarg fielen. Sie schluckte hart, blieb stehen und drehte sich um. Charlie. Die Totengräber vollendeten ihr Werk, und sie sah plötzlich das kleine Mädchen vor sich, das sie einmal gewesen war. Wie es fassungslos am Grab seiner Mutter stand und sich nicht erklären konnte, warum sie ihre schlafende Mommy in diese Kiste gesperrt hatten, die sie dann in ein tiefes Erdloch hinabließen, das schwarze Männer nur wenig später zuschütteten.
„Shelly. Du mußt dir das nicht ansehen. Du weißt, daß du es nicht mußt."
Sie merkte, daß sie rascher atmete als gewöhnlich. Seine Stimme klang besorgt. Sie fragte sich, ob sie ihm die schreckliche Geschichte über das Begräbnis ihrer Mutter eigentlich irgendwann einmal erzählt hatte.
Doch, bestimmt, entschied sie. Sie hatte ihm alles erzählt, als sie noch ein Kind gewesen war und er ihr Held.
„Es ist Zeit, zu gehen. Du zitterst ja vor Kälte."
Ja, sie zitterte tatsächlich. Er hatte recht, Sie war jedoch noch nicht soweit, diesen Ort hier zu verlassen, sich ins Auto zu setzen und in die Gegenwart
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