Tiffany Duo Band 77
heraus, drehte ihn um und sah auf den Absender. Die Adresse war ihr nur zu gut bekannt, denn ein paar Häuser weiter war sie aufgewachsen.
Irgend etwas in Shelly Wilkerson sagte ihr, daß es besser sei, den Umschlag nicht zu öffnen.
Sie stellte ihre Aktenmappe ab und legte die Tüte, in der sich ein Karton mit einer Portion Curryhähnchen befand, die sie sich von unterwegs zum Abendessen mitgebracht hatte, auf dem Küchentresen ab. Dann nahm sie die Reklameschreiben und beförderte sie in den Papierkorb. Mit leicht zitternden Händen zog sie einen Stuhl unter dem Tresen hervor, ließ sich darauf nieder, starrte auf den Brief wie das Kaninchen auf die Schlange und schalt sich innerlich eine dumme Gans.
Sie war sich fast hundertprozentig sicher, daß sie wußte, was der Umschlag enthielt. Bereits seit einer kleinen Ewigkeit hatte sie befürchtet, daß es eines Tages passieren würde. Und seit etwa einem Jahr war sie sich dessen sicher gewesen. Nun also war es soweit. Nein, eine Überraschung war es gewiß nicht.
Irgendwie hatte sie sich gewünscht, daß es endlich geschehen möge. Es war höchste Zeit, daß all ihre dummen, romantischen Kleinmädchenträume mit einem Schlag in sich zusammenfielen wie ein Kartenhaus.
Nach langem Zögern und tief in Gedanken versunken nahm sie ein Messer aus einer der Schubladen und schlitzte das Schreiben auf, während in ihrem Kopf alles drunter und drüber ging.
In dem Umschlag befand sich ein zweiter kleinerer, auf dem in einer ihr bekannten eindrucksvollen Handschrift nichts weiter als ihr Name stand. Ohne Zweifel die Schrift von Rebeccas Mutter. Und ebenso zweifellos war der Brief die Einladung, die zu erhalten sie gleichzeitig gefürchtet und gehofft hatte. Nein, es war wirklich nicht nötig, ihn zu öffnen.
Brian Sandelle und Rebecca Harwell, zwei ihrer engsten Freunde aus der Kindheit würden heiraten. Na und?
Sie schluckte hart, starrte auf die schwungvollen Schriftzüge und ließ den Umschlag auf die Küchentheke sinken.
Sie hatte kein Recht, so zu reagieren. Schließlich war sie kein kleines Mädchen mehr. Sie war eine erwachsene Frau. Und eine erwachsene Frau mußte irgendwann einmal damit aufhören, ihr Leben mit Träumen von einem hochgewachsenen, schlanken, dunkelhaarigen Mann zu verbringen, und mit Träumen von dem, was hätte sein können, aber niemals gewesen war und auch niemals sein würde.
Jetzt war endgültig der Zeitpunkt gekommen, all diese Fantasien in den hintersten Winkel ihres Herzens zu verbannen und der Realität ins Auge zu blicken. Ab sofort würde sie aufhören, jeden Mann, den sie kennenlernte, mit Brian Sandelle zu vergleichen. Es war Zeit, in die Zukunft zu sehen, in ihre Zukunft und zwar nur ihre - nicht die von ihr und Brian. Sie mußte nun endlich beginnen, ihr eigenes Leben zu leben, das nichts, aber auch gar nichts mit dem seinen zu tun haben würde.
Das Curryhähnchen war noch immer nicht ausgepackt, es wurde langsam kalt. Shelly war der Appetit vergangen.
Nun, wie auch immer, heute würde sie den Umschlag nicht mehr öffnen, diese Qual wollte sie sich ersparen.
1. KAPITEL
Vier Wochen später
Das Läuten des Telefons zerriß die Stille, die zu dieser frühen Stunde in dem Ingenieurbüro herrschte, wo Shelly Wilkerson bereits an ihrem Schreibtisch saß und arbeitete. Sie zuckte zusammen.
Es war Montagmorgen und noch nicht einmal sechs Uhr, Normalerweise war sie um diese Zeit natürlich noch nicht im Büro, doch heute hatte sie es versprochen, und zwar jemandem, den sie eigentlich um jeden Preis meiden wollte.
Die Firma war im Moment dabei, ein Angebot zu erstellen - ein Auftraggeber beabsichtigte, einen riesigen Wohnkomplex für Eigentumswohnungen zu errichten - und Shelly war die leitende Ingenieurin, die die Koordination übernommen hatte. Der Kollege, der für die Elektrik zuständig war, hatte sie bißchen hängenlassen, er war zu langsam gewesen mit der Beendigung seines Teils des Projektes, und das hatte sie zeitmäßig ein ganzes Stück zurückgeworfen. Nun mußte sie sich beeilen.
Deshalb war sie heute so früh hierhergekommen. Das letzte, was sie erwartet hatte, war allerdings, jetzt vom Telefon gestört zu werden. Wer um alles in der Welt rief denn in dieser Herrgottsfrühe bloß hier an? Wahrscheinlich falsch verbunden, schoß es ihr durch den Kopf, während sie abnahm.
„Williams Engineering."
„Shelly?" Die Stimme des Mannes klang seltsam gedämpft.
„Ja?"
„Shelly, gehen Sie weg. Es ist zu riskant für
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