Tiffany
er. »Sie war ganz verrückt nach Kindern, sie wollte Lehrerin werden. Aber als ihre Mutter starb und wir alles verloren, gab es mit ihr kein Auskommen mehr.«
»Viele Kinder verlieren ihre Mütter und ihr Zuhause«, wiederholte ich. »Aber man kann ihnen darüber hinweghelfen, zum Beispiel, indem sie von ihrem Vater genügend Aufmerksamkeit und Verständnis bekommen.« Ich begann, mich wie ein Pfarrer anzuhören und ärgerte mich über mich selbst, umso mehr, weil ich mit einem Vogel Strauß redete, der seinen Kopf in den Sand steckte. »Meiner Meinung nach ist sie nur deshalb auf die schiefe Bahn geraten, weil Sie nicht eindeutig für sie Partei ergriffen haben, sondern für Ihre zweite Frau, und weil Sie sich überhaupt nicht um sie gekümmert haben.«
»Das ist nicht wahr«, wehrte er sich schwach. »Ich habe mich wirklich bemüht, aber sie hat Tiffany von Anfang an immer die Schuld an allem gegeben. Sie hat sie vom ersten Tag an gehasst.«
Ich verlor den Faden. »Tiffany? Ihre Tochter?«
Er wirkte ebenso verwirrt wie ich. »Wieso meine Tochter? Die heißt doch Madelon, von der reden wir doch die ganze Zeit.«
Allmählich dämmerte es mir. »Ist Tiffany …«
»Tiffany ist der Name meiner zweiten Frau«, sagte er ungeduldig. »Eigentlich heißt sie Trees, aber sie nennt sich Tiffany, das gefällt ihr besser.«
Noch ein Fall für den Psychiater. Es war schwer vorstellbar, andererseits aber auch völlig logisch, dass Tiffany dem hässlichsten und verachtungswürdigsten Teil von sich selbst den Namen ihrer bösen Stiefmutter gegeben hatte. Ich dachte daran, was Nina über die Ursachen ihres Traumas gesagt hatte. Das war Madelons Rache: Da sie ihre Stiefmutter nicht aus der Welt schaffen konnte, machte sie sie mit Hilfe von Drogen und Prostitution zu einem Zerrbild. Das bin nicht ich, das ist dieses Weib.
»Nehmen Sie gelegentlich die Dienste von Prostituierten in Anspruch?«, fragte ich.
Er warf mir einen beleidigten Seitenblick zu. »Von Prostituierten?«
Ich gab einen verächtlichen Laut von mir. »Ach nein, natürlich nicht, solange das noch klappt, geigen Sie sich die Frauen gratis ins Bett.«
»Ich brauche mich nicht von Ihnen beleidigen zu lassen!« Blindlings langte er nach dem Türgriff.
Ich packte ihn am Arm. »Sie sind ohnehin eine wandelnde Beleidigung für sämtliche Kollegen und den Elisabethconcours«, fuhr ich ihn an. »Außerdem geht es hier überhaupt nicht um Sie! Es geht darum, dass Huren nur selten ihren eigenen Namen angeben, sondern sich einen Künstlernamen zulegen. Die Gründe brauche ich Ihnen ja nicht zu erklären.«
»Und was habe ich damit zu tun?«, schnauzte er zurück und riss sich los.
»Madelon ist heroinabhängig und arbeitet als Hure. Sie verkauft ihren Körper unter dem Namen Tiffany auf dem Straßenstrich.«
Ich sah, dass er langsam zu begreifen begann. Cornelius ließ den Türgriff los und umklammerte mit den Händen seine Knie. Sein Gesicht wurde aschfahl, seine Schultern sanken herunter, er schien zu schrumpfen und zu altern. Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn er gleich keinen vernünftigen Ton mehr aus seiner Geige herausgebracht hätte, aber womöglich spielte er erst recht die Sterne vom Himmel, denn schließlich war er ein Meister darin, Schwierigkeiten zu verdrängen und über Probleme einfach hinwegzugehen. Wie sonst hätte es ihm gelingen können, sich jahrelang keine Sekunde um das Schicksal seiner minderjährigen Tochter Gedanken zu machen?
»Vielleicht will sie Ihnen damit etwas sagen«, meinte ich.
»Na klar«, murmelte er. »Dass sie meine Frau als Hure betrachtet.«
Mehr als das, dachte ich. Vor allem war es ein bewusstes oder auch unbewusstes Signal dafür, dass sie eifersüchtig auf ihre Stiefmutter war, die all die Aufmerksamkeit und Liebe bekam, nach der sie sich sehnte. »Meiner Meinung nach will sie auch damit ausdrücken, dass sie Sie für ihren Zustand verantwortlich macht.«
Er schüttelte den Kopf, erweckte aber einen bedrückten Eindruck.
»Ich kann das nicht verstehen«, gab ich offen zu. »Madelon ist so ein nettes Mädchen, und sie ist wahrhaftig nicht dumm. Trotz der Misere, in der sie sich befindet, versucht sie, den Kopf über Wasser zu halten und sich nicht völlig hängen zu lassen. Was ist denn so Besonderes an dieser Bardame, dass ein Vater für sie seine Tochter opfert?«
»Ich habe meine Tochter niemandem opfern wollen«, erwiderte er lahm. »Es ist nur … verdammt, manchmal entwickeln sich die Dinge eben
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