Tiger Eye
Er zog Dela mit sich hoch und sah sich in ihrem Atelier um. Schließlich fiel sein Blick auf die Treppe. Seine Miene verfinsterte sich. »Ich wünschte, wir wären wirklich allein.«
»Ich liebe deine Anspielungen«, sagte sie, aber ihr Lächeln erlosch, da Hari sich nicht entspannte. Er drückte sie weiter an sich. Sein Schweigen war fast schmerzlich.
»Es ist eine alte Sache«, erklärte er ihr leise. »Einige meiner Herrinnen haben mir befohlen, sie vor Zeugen zu erfreuen, und manchmal sogar mit diesen Zuschauern. Sie haben mich herumgereicht wie ein Spielzeug. Einige meiner Meister taten mir dasselbe an, mit ihren Gattinnen oder ihren Dienerinnen. Für sie war es keine Vergewaltigung, denn sie waren willig, aber beschämend war es trotzdem. Ich kam mir vor wie ein Tier.«
Dela fühlte, wie Hari zitterte und hätte gern die Zeit zurückgedreht, um ihn von jedem Augenblick der Verzweiflung und der Erniedrigung zu befreien. Wenn ich es nur könnte..., dachte sie.
Er drückte seine Lippen auf ihre Stirn. »Ich möchte nicht, dass es bei uns auch so ist, Delilah.«
»Ich auch nicht«, erwiderte sie und zog ihn fest an sich.
Nie wieder, versprach sie ihm lautlos. Nie wieder.
13
Das Le Soleil war ohne Frage eines von Delas Lieblingsrestaurants in der Innenstadt. Es lag zwischen einer Buchhandlung und einem Blumenladen und war ein guter Ort für Lunch oder Dinner, allein oder mit Freunden. Die großen Fenster, die hohen Decken und die freundlichen Angestellten schufen eine angenehme Atmosphäre, die von dem himmlischen Essen noch verstärkt wurde, das auf einer aromatischen Woge von kulinarischem Wohlwollen aus der Küche getragen wurde.
Bevor Dela durch ihre Arbeit berühmt wurde, war sie fast jeden Tag zum Essen ins Le Soleil gegangen. Das Restaurant lag nur einen Block von der Universität entfernt, wo sie ihre Kunstkurse besuchte, und sie ging gern zu dem kleinen französischen Restaurant, um etwas Warmes zu essen, bevor sie weitere lange Stunden in ihrem Atelier verbrachte.
»Dela!«, begrüßte Pierre sie, als sie durch die Glastür trat. Der kleine, schlanke Mann lächelte und streckte ihr beide Hände entgegen. »Du siehst heute Abend entzückend aus, Liebes. Es ist schon lange her, seit du das letzte Mal hier warst.«
Pierre LeBlanc war ein ehemaliges Mitglied des französischen Widerstandes, ein Küchenchef, der nach dem Krieg mit dem festen Vorsatz nach Amerika emigriert war, ein Leben zu führen, das nichts mehr mit dem Albtraum des menschlichen
Charakters zu tun hatte. »Es gibt drei Dinge, die mich sicher machen«, hatte er Dela einmal erklärt. »Sonne, eine gute Frau und ausgezeichnetes Essen.«
Und so war Le Soleil geboren worden, und zwar mit Hilfe einer guten Frau, Marissa, der immer noch der Blumenladen nebenan gehörte.
Dela drückte Pierres Hände kurz und lächelte ihn herzlich an. »Ich war beschäftigt«, erwiderte sie, »und bedauerlicherweise ist das auch heute der Grund meines Besuchs.«
»Du arbeitest zu viel«, tadelte er sie. »Sollte ich vielleicht mehr Kunst bei dir kaufen, damit du häufiger vorbeikommst und mit mir >übers Geschäft plauderst?«
Dela schüttelte den Kopf. »Es ist doch nicht nötig, mich zu bestechen, damit ich ins Le Soleil komme, Pierre. Dein ausgezeichnetes Essen und deine Gesellschaft sind Verlockung genug.«
Er verzog die Lippen und klopfte sich mit seinen runzligen Händen auf die elegante Tweedweste. »Charmant wie immer.« Dann runzelte er die Stirn und warf einen Blick in den rückwärtigen Teil des Restaurants. »Ich weiß, dass ich es eigentlich nicht sagen sollte, Dela, aber dieser Mann, den du treffen willst, hat mich bereits darüber informiert, dass du kommen würdest. Ich mag ihn nicht besonders.«
»Ich auch nicht«, meinte Dela, während einige kichernde Frauen hinter ihr das Restaurant betraten. »Aber so ist das eben manchmal. Kannst du mich zu ihm führen?«
»Natürlich.« Er reichte ihr den Arm.
»Duzt du dich eigentlich mit allen Leuten in dieser Stadt?«, fragte Blue in dem kleinen Lautsprecher, den sich Dela tief ins Ohr gesteckt hatte.
Sie antwortete nicht, obwohl sie das Wissen beruhigte, dass ihre Freunde bei ihr waren, wenn auch nur elektronisch. Hari hatte vorgeschlagen, dass einige von ihnen das Restaurant eine Stunde vor dem Treffen betreten sollten. Sie könnten einfach essen und sich unter die Gäste mischen. Aber Artur hatte Sorge gehabt, dass sie zu leicht zu erkennen waren, und zwar nicht nur wegen der
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