Tiger Eye
Freunde. In all den Jahren habe ich noch nie eine solche Anhäufung von Talenten erlebt. Und dennoch, Sie alle zusammen erreichen nicht die Macht, die ich einst besaß, und die ich bald wieder besitzen werde.«
Ist er ein Sadist?, fragte sich Dela. Ein prahlerischer Hundesohn...?
Der Magier lächelte. »Ich kann Ihre Gedanken nicht lesen, aber ich nehme Ihre Gefühle wahr. Seien Sie wütend. Toben Sie, beschimpfen Sie mich, wenn Sie es wünschen.« Er griff hinter sich und hielt eine Spritze hoch. »Ich werde jetzt Ihren Knebel lösen, aber wenn Sie schreien, werde ich Sie erneut betäuben.«
Dela spielte kurz mit dem Gedanken, ihn zu beißen, entschied sich jedoch dagegen. Der Magier schien redselig zu sein, und ihre Neugier war geweckt. Vielleicht erfuhr sie ja etwas, das Hari helfen würde. Oder sie konnte ihn wenigstens lange genug hinhalten, bis jemand sie fand.
Der Magier goss ihr etwas Wasser in den Mund, nachdem er den Knebel entfernt hatte. Dann lehnte er sich zurück und beobachtete sie.
»Wo ist die Schatulle?«, fragte er schließlich. Damit hatte Dela gerechnet.
»Das weiß ich nicht«, antwortete sie. Es war auch nicht ganz gelogen. Blue hatte die Schatulle in einem Bankschließfach einer örtlichen Bank deponiert. Dela wusste weder die Nummer, noch hatte sie den Schlüssel.
Der Magier starrte sie an, und Dela fühlte, wie dabei etwas ihr Bewusstsein berührte. So leicht wie die Flügel eines Schmetterlings, aber unendlich viel kälter.
»Sie sagen nicht die ganze Wahrheit.« Seine Augen verdunkelten sich, als er sich vorbeugte.
»Ich weiß nicht, wo die Schatulle ist«, wiederholte sie und konzentrierte sich darauf, dass sie den genauen Platz tatsächlich nicht kannte.
Einen Moment lang wartete sie atemlos, dann lehnte sich der Magier erneut zurück. »Und wer weiß, wo sie ist?«
Diese Frage würde sie ganz bestimmt nicht beantworten. Dela begriff, dass der Magier die Fähigkeit besaß, Gedanken zu lesen, nur eben nicht ihre. Das war nicht weiter überraschend. Selbst Max konnte ihre Gedanken nicht lesen, wenn sie ihr Bewusstsein abschirmte, obwohl er dann immer noch in der Lage war, telepathisch mit ihr zu »reden«.
Wenn der Magier allerdings spürte, ob sie die Wahrheit sagte, dann würde es nicht lange dauern, bis er Tatsachen von Erfindungen unterschieden hatte. Sie weigerte sich, Blue und ihre Freunde in Gefahr zu bringen.
Delas Schweigen missfiel dem Mann offenbar, und wieder beugte er sich vor. »Ich habe Ihr Haus mehrere Tage lang beschattet und all Ihre Bewegungen verfolgt. Habe Sie mit Hari und Ihren Freunden beobachtet. Es ist so einfach, den Nachbarn ein paar Fragen zu stellen. Ich weiß jetzt Ihren Namen, Dela Reese.«
Delas Zunge schwoll an, ihr Sehvermögen trübte sich. Eine merkwürdige Schwere legte sich über ihre Gedanken. Das Zischen, mit dem der Magier ihren Namen ausgesprochen hatte, hallte in ihrem Schädel wider. Dela kämpfte um Klarheit, versuchte, die Lähmung abzuschütteln, die wie eine Welle durch ihren Körper lief.
Wenn du den richtigen Namen einer Person weißt, öffnet er dir einen Spalt in ihr Leben, in ihren Verstand. Dein Name ist zwar nicht das, was du bist, aber so wirst du genannt, und wenn man ihn kennt, besitzt man ein sehr tiefes Wissen über dich.
Haris warme Stimme strömte durch Delas Verstand, sie klammerte sich an seine Worte.
Mein Name ist nicht das, was ich bin. Ich werde nur so genannt.
»Wer kennt den Ort, an dem die Schatulle aufbewahrt wird, Dela Reese? Ist es einer Ihrer Freunde?«
Dela presste die Zähne zusammen, um den Zwang zu unterdrücken, zu antworten und alles zu verraten.
Mein Name ist nicht das, was ich bin.
Ich könnte meinen Namen ändern, ihn wegwerfen, und ich wäre immer noch ich. Metallschmiedin, Künstlerin, Träumerin, Geliebte...
»Sagen Sie mir seinen Namen, Dela Reese.«
So werde ich nur genannt.
»Sagen Sie es mir.«
Aber Dela ist nicht mein echter Name. Es ist nur irgendein Name. Und Hari nennt mich immer Delilah.
Immer Delilah, niemals Dela.
Mein Name ist nicht das, was ich bin. So werde ich nur genannt.
Und ich werde Delilah genannt.
Dela klammerte sich an ihren vollen Namen, sang ihn lautlos vor sich hin, wie ein Mantra, und bildete damit einen Schild gegen die Fragen des Magiers. Der Schatten blätterte von ihrem Bewusstsein ab, die Dunkelheit zerstreute sich wie Asche im Wind. Klarheit kehrte zurück, und ihre Knochen fühlten sich so leicht an wie Luft.
»Da müssen Sie sich schon etwas
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