Tim (German Edition)
dass es machbar war. Alle hielten mich für wahnsinnig. Meine Eltern, meine Trainer, sogar mein Bruder. Aber ich war nicht verrückt geworden. Was würde Charlie denken? Das Warten auf seinen Brief war die Hölle, aber als ich ihn bekam, war ich erleichtert. Ich hatte ein bisschen Angst, dass er glauben könnte, mich auf den rechten Weg zurück bringen zu müssen und mich vielleicht sogar vor die Wahl stellt: er oder der Sport. Er wusste, dass es das einzige Druckmittel war, mit dem man mich hätte umstimmen können. Und er wusste, dass ich mich nie gegen ihn entscheiden würde. Ich erwartete ein paar Bedenken und Ratschläge. Aber ich bekam nichts in dieser Art zu lesen. Nichts wie ran . Ich wusste, dass er mich verstehen würde und war im siebten Himmel. Bis auf meine kleine Vorführung im Camp ein Jahr zuvor hatte Charlie mich bisher weder beim Turmspringen noch beim Turnen gesehen. Mir wurde warm ums Herz, dass er so viel Vertrauen in meine Fähigkeiten hatte. Mir wurde wieder einmal sehr deutlich vor Augen gehalten, warum ich ihn liebte und warum es sich lohnte, auf meinen Charlie zu warten.
Und ich habe es durchgezogen! Ich habe mich in beiden Sportarten weiterentwickelt. Wie einfach das war, hat sogar mich selbst überrascht. Mein Sprung-Coach nahm meine Entscheidung mehr oder weniger locker auf. Mein Gymnastik-Coach stimmte nur zähneknirschend zu. Es war klar, dass es ihm nicht gefiel und er ließ es mich immer wieder spüren. Aber das war mir egal. Ich hatte mir ein Ziel gesetzt.
Die nächsten Wochen waren ziemlich hektisch mit Turnen und Turmspringen. Ich musste mich an meinen neuen Rhythmus erst einmal gewöhnen. Aber ich konnte mich nicht beklagen. In dieser Zeit hatte ich auch eine weitere Entscheidung getroffen. Ich wollte mich bei Tina outen. Ich fühlte mich noch immer wie ein Lügner und ich musste ihr die Wahrheit sagen. Alles andere wäre ihr gegenüber nicht fair gewesen. Nachdem wir Samstags im Kino waren, liefen wir meistens zurück nach Hause. Wir plauderten dabei über alles mögliche. Ich genoss diese Zeit und ich war mir sicher, dass auch ihr diese Gespräche gefielen. Es war noch hell, als wir eines Abends unterwegs waren. Wir liefen durch den gleichen Park, in dem ich mit Charlie war. Wir setzten uns sogar unter den gleichen Baum. Jetzt oder nie , dachte ich.
»Tina, ich muss dir etwas beichten.«
»Was denn?«, fragte sie vorsichtig.
Ich seufzte. Groß herum reden machte wenig Sinn, also platzte ich sofort damit heraus. »Ich bin schwul.« Da war es. Es war raus. Und es fühlte sich unglaublich gut an, ihr die Wahrheit zu sagen. Es dauerte einen kurzen Moment, bis sie antwortete.
»Wir können trotzdem miteinander ausgehen, oder?«
Genau in diesem Moment verliebte ich mich in sie. Nein, nicht so! Ich liebte Charlie und daran würde sich auch nichts ändern. Ich verliebte mich auf eine andere Weise in sie. Ich kann es auch nicht wirklich beschreiben.
»Du bist nicht sauer, weil ich dir das verheimlicht habe?«
»Tim, ich suche in der High School nicht die große Liebe«, versuchte sie zu erklären. »Und ich habe dich wirklich gern. Ich bin einfach nur froh, dich als Freund zu haben. Dass du schwul bist ist schade. Denn dadurch kann sich unsere Beziehung wahrscheinlich nicht in eine Richtung entwickeln, wie ich es vielleicht eines Tages gerne hätte. Aber ich möchte dich nicht verlieren.«
Ich war sprachlos und brauchte einen Moment, um darauf zu antworten. »Vielen Dank, Tina. Es macht mich sehr glücklich, dass du das sagst. Und ich möchte meine beste Freundin auch nicht verlieren.«
In meinem nächsten Brief, Nummer 12, schilderte ich Charlie unser Gespräch so detailliert wie möglich. Mir war ein Stein vom Herzen gefallen und ich war mir sicher, dass er es aus meinem Brief herauslesen konnte. Ich war so glücklich, dass Tina kein Problem damit hatte. Außerdem hatten wir wieder einen Monat geschafft. Ein weiterer Grund, sich zu freuen.
Kapitel 35: Charlie
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Ich war erleichtert, als ich Tim‘s Brief im September erhielt. Ich wusste, dass es ihn sehr belastet hatte, Tina nicht die Wahrheit sagen zu können. Ich freute mich so sehr für ihn. Tina‘s Antwort verblüffte mich aber schon ein bisschen. Ich fragte mich, wie es Tim immer wieder gelang, die unglaublichsten Menschen anzuziehen. Nein, mich schloss ich bei diesem Gedanken nicht mit ein. Das antwortete ich ihm auch, erzählte ihm ein bisschen von meinem langweiligen Leben in Rockford und schickte Brief 12 auf
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