Time to Die - Stirb noch einmal
meist aufgesetzt. Er mochte die meisten Menschen nicht und sah oft nur das Schlechte in ihnen. Vertrauen brachte er den wenigsten entgegen.
Am Abend waren alle Mitarbeiter wieder gegangen bis auf zwei. Toni, Lexies Assistentin, und Finanzchef Farris Richardson beugten sich immer noch zusammen über die Unterlagen, die sie auf dem großen Mahagonischreibtisch ausgebreitet hatten. Als Aldridge im Türrahmen erschien, blickten sie auf.
“Mr. Holston ist da, um Miss Wells abzuholen.”
“Bitten Sie Jafari herein, Aldridge”, sagte Lexie.
“Nein, nicht nötig.” Toni winkte ab. “Heute nicht. Wir haben heute eine ganz besondere Verabredung.” Sie zwinkerte Lexie zu. “Ich glaube, er fragt mich heute.”
Farris jedoch machte auch, nachdem Toni verschwunden war, keinerlei Anstalten, ebenfalls aufzubrechen. Stattdessen begann er, über Belanglosigkeiten zu sprechen und Lexie dabei wie ein verliebter Schuljunge anzugrinsen. Deke überlegte ernsthaft, ob er einschreiten und sie retten sollte.
“Hast du heute Abend schon was vor, Farris?”, fragte Lexie in diesem Moment.
Verdammt. Was sollte denn das? Reines Mitleid, keine Frage. Richardson hatte ihr ja kaum eine andere Möglichkeit gelassen, als ihn einzuladen.
“Nein. Noch nicht.”
“Dann musst du unbedingt mit uns zu Abend essen.”
Der Finanzchef strahlte. “Wenn es keine Umstände macht, bleibe ich gern.”
“Es macht überhaupt keine Umstände. Ich werde Aldridge bitten, ein weiteres Gedeck aufzulegen.” Lexie stand auf und fuhr fort: “Du warst noch nie hier, nicht wahr? Soll ich dir vor dem Essen die Villa zeigen?”
Wie ein kleiner Junge, den man gefragt hatte, ob er Lust habe, auf den Spielplatz zu gehen, grinste Farris in freudiger Erwartung von einem Ohr zum nächsten.
Großartig. Genau, was ich jetzt brauche!
Als hätte sie seine Gedanken erraten, wandte sich Lexie an Deke und sagte: “Wenn du lieber nicht mitkommen möchtest – kein Problem. Hier im Haus sind wir ja auch ohne dich sicher.”
“Tut einfach so, als wäre ich nicht da”, erwiderte Deke kühl. “Ich werde mucksmäuschenstill sein.”
Lexie musterte ihn nachdenklich. Als sie die Bibliothek schließlich verließen, hakte sie sich bei Farris ein.
An diesem Abend fand Lexie keine Ruhe. Sie dachte an Toni und fragte sich, ob Jafari ihr tatsächlich einen Antrag gemacht hatte. Er war Student und würde wohl noch ein paar Jahre bis zu seinem Abschluss brauchen. Das hieß aber nicht, dass er Toni, sollten sie heiraten, nicht doch eines Tages mit sich zurück nach England nehmen würde. Die Vorstellung, dass eine ihrer engsten Freundinnen dann auf der anderen Seite des Atlantiks leben könnte, gefiel der Egoistin in Lexie gar nicht. Vielleicht würde Jafari ja in den USA bleiben, vielleicht sogar in Chattanooga.
“Ich bin total verrückt nach ihm”, hatte Toni erst kürzlich zu Lexie gesagt. “Er ist der Richtige, auch wenn er ein paar Jahre jünger ist als ich. Es ist ja nicht so, als könnte ich seine Mutter sein.”
Lexie wollte, dass ihre Freundin glücklich war, und Jafari machte sie ganz offensichtlich glücklich. Er war ein ruhiger und ernsthafter junger Mann. Ein wenig schüchtern, aber immer höflich. Wie Deke so einen Menschen verdächtigen konnte, war ihr schleierhaft. Aber Deke war nun mal übervorsichtig. Das machte ihn wahrscheinlich zu einem so guten Bodyguard.
Wie traurig es sein musste, niemandem zu vertrauen!
Was nur hatte Deke zu einem Pessimisten gemacht? Oder war er einfach als Schwarzseher geboren worden?
Ein Mann wie Deke sollte sich am besten nur mit positiv denkenden Menschen umgeben. Falls er jemals heiratete, müsste seine Frau genau das Gegenteil von ihm sein.
Falls er jemals heiratete?
Woher wollte sie wissen, dass er nicht schon längst verheiratet war? Vielleicht hatte er irgendwo in Atlanta Frau und Kinder? Nur weil es zwischen ihnen ein wenig sexuelle Anziehungskraft gegeben hatte, musste das nicht bedeuten, dass er Junggeselle war. Einige Männer flirteten völlig unabsichtlich, genau wie einige Frauen. Ihr hatte man das auch schon vorgeworfen. Sie war einfach nur freundlich und kontaktfreudig. Das bedeutete noch gar nichts.
Er ist nicht verheiratet. Ich würde es spüren.
Als sie das leise Klopfen an der Zwischentür vernahm, sprang sie auf.
“Ja?”, rief sie atemlos.
Deke öffnete die Tür und blieb im Türrahmen stehen. “Ich wollte nach dir sehen, bevor ich zu Bett gehe.”
Er war barfuß und trug nur eine Pyjamahose.
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