Timm Thaler
Eisensprossen
zum Bootsdeck hinauf. Die Hände, mit denen er das Eisengeländer
umfaßte, waren schweißnaß.
Im Steuerhaus sah ihn der Kapitän merkwürdig und gar nicht
gleichgültig wie sonst an. Der Steuermann stierte geradeaus und
wandte nicht einmal den Kopf zur Seite.
„Du heißt…“ Der Kapitän unterbrach sich räuspernd und fing
noch einmal an: „Sie heißen Timm Thaler?“
„Ja, Herr Kapitän!“
„Sie sind geboren am… in…“
Von einem Blatt in seiner Hand las der Kapitän die Lebensdaten
des Jungen ab, und Timm bestätigte jedes Datum mit einem: „Ja,
Herr Kapitän.“ Dabei trat ihm vor gespannter Erwartung Wasser in
die Augen.
Als das kurze Verhör zu Ende war, ließ der Kapitän das Blatt
sinken, und eine merkwürdige Stille trat ein. Auf dem Fußboden
zitterten Sonnenkringel, und Timm betrachtete den breiten Nacken
des Steuermanns, der immer noch unverwandt geradeaus starrte.
„Dann darf ich Sie wohl als erster beglückwünschen“, unterbrach
der Kapitän die Stille.
„Wozu, Herr Kapitän?“ Timm hatte eine ganz dünne piepsige
Stimme.
„Hierzu!“ Der Kapitän deutete mit einer Kopfbewegung auf das
Papier in seiner Hand. Gleichzeitig fragte er: „Sind Sie verwandt mit dem Baron Lefuet?“
„Nein, Herr Kapitän.“
„Aber Sie kennen ihn persönlich?“
„Ja, das schon…“
„Also dann lese ich Ihnen den Funkspruch vor:
baron lefuet verstorben stop mitteilt timm thaler dass er zum
alleinerben eingesetzt stop zwillingsbruder des verstorbenen neuer baron lefuet übernimmt Vormundschaft bis zur Volljährigkeit stop
phoenix reederei der lefuet ag genua gezeichnet grandizzi direktor.“
Timm starrte immer noch steinernen Gesichts auf den Nacken des
Steuermanns. Die unmöglichste Wette der Welt war gewonnen. Für
eine einzige Flasche Rum. Er, ein vierzehnjähriger Junge, war in
diesem Augenblick zum reichsten Menschen der Erde geworden.
Aber sein Lachen war mit dem Baron gestorben und würde mit ihm
begraben werden. Der reichste Mensch der Welt war der ärmste
unter den Menschen. Er hatte für immer sein Lachen verloren.
Der Nacken des Steuermannes bewegte sich. Ganz langsam
drehte Jonny den Kopf herum. Fremde, erstaunte Augen sahen Timm
an. Aber der Junge sah sie nur für einen kurzen bangen Moment.
Gerade noch rechtzeitig fingen Jonnys Arme den bewußtlosen Timm
auf.
Fünfzehnter Bogen
Verwirrung in Genua
Zwei freundliche blaue Augen in einem unrasierten starkknochigen
Gesicht sahen auf Timm nieder.
„Hörst du mich?“ fragte eine leise Stimme.
„Ja, Steuermann“, flüsterte Timm.
Eine Hand hob seinen Kopf ein wenig an, und langsam und
vorsichtig wurde ihm Wasser in den Mund geträufelt. Dabei fragte
die Stimme an seinem Ohr: „Wieso habe ich in Genua fliegende
Straßenbahnen gesehen? Wieso ist der Baron so pünktlich
gestorben? Wieso freust du dich über verlorene Wetten und wirst
ohnmächtig, wenn du sie gewinnst?“
In Timms zögernd wachwerdendem Gedächtnis rumorte das
wiederholte „Wieso“ des Steuermanns herum und stöberte Timms
alte eigene „Wiesos“ auf. Eine grenzenlose Verwirrung ließ ihn fast wieder in die Ohnmacht zurückgleiten.
Da näherten sich Stimmen und Schritte, und kurz darauf trat der
Kapitän mit einem fremden Herrn ins Steuerhaus.
Timm auf der Polsterbank nahm von dem Fremden zunächst nur
das riesige blütenweiße Spitzentaschentuch wahr, das aus der
Brusttasche des dunklen Jacketts herausquoll. Und dann reich, er den Fremden. Es war ein Duft nach Nelken, der den Jungen förmlich
überschwemmte, als der Herr nähertrat und sich vorstellte.
„Direttore Grandizzi. Ik schätzen mik särrr glicklik, als die erste Ihnen zu dirfen gratulieren in Name von ganze Gesellschaft, signore!
Ik bedaure, daß Sie sind nikt gäsund, aber kann verstehen kleine
Schock…“ Er spreizte die Hände und legte den Kopf schief: „Ah, so reik in eine kurze Augenblicke, das ist veramente nikt leikt, aber…“
Was Direktor Grandizzi weiter sagte, verstand Timm nicht. Das
Zuhören strengte ihn zu sehr an. Nur den letzten Satz verstand er, weil der Direktor sich dabei über ihn beugte: „Jetzt ik werde Sie bringen in Barkasse, signore!“
Aber da trat Jonny in Aktion. „Überlassen Sie mir den Jungen“,
knurrte er. „Ich werde ihn in die Barkasse tragen. Herr Kapitän,
übernehmen Sie solange das Steuer!“
Obwohl das Schiff im Augenblick vor Anker lag, war die
Verwirrung so allgemein, daß der
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