Timm Thaler
Herzog
kennen, der für die Scherenschleifer von Afghanistan eintrat, und einen argentinischen Corned-Beef-Fabrikanten, der die Vorrechte
des britischen Adels verteidigte.
Über die Frage nach Herren und Dienern, die Timm in seiner
neuen Lage sehr beschäftigte, schien in der Welt eine große
Konfusion zu herrschen. Die hübscheste Antwort hatte er von einer Dolmetscherin in Moskau gehört.
Jekaterina Popowna – so hieß das Fräulein – hatte mit dem Baron
und Timm im Hotel „Moskwa“ Hähnchen gegessen. Unter dem
Essen bemerkte der Baron spöttisch: „Ihr Kommunisten, Jekaterina
Popowna, glaubt an die Gleichheit aller Menschen. Das ist ein großer Unsinn. Über diese Dummheit werden Sie stolpern und sich das
Genick brechen.“
Fräulein Popowna lächelte, zeigte auf das gebratene Hähnchen
vor sich und sagte: „Wenn dieser Hahn noch lebte, würde ich
niemals von ihm verlangen, daß er Eier legt. Ich würde von ihm
verlangen, daß er im Hühnerhof regiert; denn nur dazu ist er
tauglich.“
Das war ebenso hübsch wie klug geantwortet. Lefuet lachte laut
und rief: „Sie glauben also an geborene Herren, Jekaterina
Popowna!“
„Ein bißchen, Baron. Es gibt, glaube ich, eine Art Talent zum
Regieren, zum Führen, zum Leiten oder wie Sie es nennen wollen.
Nur glaube ich nicht, Baron, daß dieses Talent auf Könige, Herzöge oder reiche Erben beschränkt ist. Es wächst auch in meiner Vorstadt, und auf manchen Schlössern wächst es nicht. Dieser junge Mann
zum Beispiel…“ (Jekaterina Popowna zeigte auf Timm) „… dieser
junge Mann, Baron, soll einmal Ihr Königreich aus Schiffen,
Rosinen und Butter regieren; aber ich glaube, sein Herz ist dafür ein bißchen zu groß geraten.“
„Mag sein“, brummte Lefuet und brach das Gespräch ab. Timm
aber ging es noch lange durch den Kopf. Er war Jekaterina Popowna nicht böse; denn er gab ihr recht, weil er klug und ohne Eitelkeit war.
(Und weil er in dem Alter war, in dem man sich selbst langsam
kennenlernt.)
Nach dem Kalender wurde Timm während all dieser Reisen ein
Jahr älter. Er näherte sich seinem sechzehnten Lebensjahr. Aber sein Geist war fünf oder sechs Jahre älter geworden. Auch war er
erstaunlich gewachsen, und sein Gesicht glich dem eines
Zwanzigjährigen.
Das Flugzeug, in dem er und der Baron in diesen Monaten fast
dreimal die Welt umkreisten, war ein hübsches Sinnbild für Timms
Lage: Er war immer oben, stand immer auf Gipfeln, auf denen die
Luft leichter und der Blick weiter ist als in den Tälern. Wenn er einem Gespräch Lefuets über die Kirche lauschte, dann saß ein
Kardinal bei ihnen, der frei und heiter plauderte und ohne den Zorn und Eifer eines Dorfpfarrers, der seinen Bauern die zehn Gebote in die harten Schädel rammen muß. Wenn über den Kommunismus
gesprochen wurde, dann saß ein gebildetes Fräulein wie Jekaterina Popowna bei ihnen, das mit Leuten aus der ganzen Welt Gespräche
führte und viel hübscher und leichter zu reden wußte als der
Parteisekretär eines Dorfes, dessen Gedanken von Mais und Hirse
angefüllt sind. Selbst über eine scheinbar so unbedeutende Sache wie Margarine hatte Timm Gespräche gehört, in denen es um
Südamerikanische Staatspräsidenten und um Kontinente voller
Kramläden ging, zwischen denen Frau Bebbers Bäckerladen nur ein
kaum sichtbares Sandkorn war.
Es wäre einfach gelogen, wollte man behaupten, Timm hätte sich
unbehaglich gefühlt in dieser Wolkenhöhe über der Welt. Hier war ja das Leben leicht. (Zumal für jemanden, der am Lachen krankte.)
Überdies konnte ein Junge mit flinken Gedanken hier viel erfahren und lernen.
Aber der Bäckerladen von Frau Bebber, in dem es nach Brot und
frischen Krapfen roch, diese kleine Pfennigwelt der Nachbarn, diese Klatschgeschichten-Schatulle, gepolstert mit braunen Broten, sie
erschien dem Jungen unendlich viel liebenswerter als ein Hotel
Palmaro oder ein mesopotamisches Schloß.
Es war übrigens merkwürdig, daß der Baron die Geburtsstadt des
Jungen wie ein heißes Eisen mied. Mehrere Male hatte Timm den
Wunsch geäußert, sie zu besuchen; aber Lefuet, der niemals direkt nein gesagt hatte, überhörte den Wunsch oder schützte dringende
Besprechungen in anderen Städten vor.
Als das Reisejahr sich seinem Ende näherte, hatte Timm alle
Mühe, äußerlich gleichmütig zu bleiben und dem Baron weiter die
Rolle des zufriedenen reichen Erben vorzuspielen. Je näher sein
Geburtstag rückte, um so unruhiger
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