Tiphanie – Feuer der Sehnsucht
dreistöckigen, spitzgiebligen Bürgerhaus, das mit seinen frisch gekalkten Wänden und den dunklen Fachwerkbalken ebenso wohlhabend wie einladend wirkte und ein wenig abseits der anderen Bürgerhäuser am Kai der Vilaine stand. Hinter den mannshohen Mauern, die seinen Garten zur Straße hin abschirmten, sah man die Zweige von Apfelbäumen, und in den Fenstern schimmerten richtige Glasscheiben und nicht nur gespannte Häute.
»Im Keller und im Erdgeschoss befanden sich früher das Lager und das Geschäft eines Weinhändlers«, erklärte die Gräfin fröhlich, als ihnen eine emsige Magd die Tür öffnete, kaum dass sie die Stufen davor betreten hatten. »Der Dunst hängt immer noch in den Balken, deswegen nutzen wir lieber die Räume in den oberen Stockwerken. Außerdem finde ich die Aussicht ohnehin viel hübscher.«
Sie zog ihre Besucherin eine breite Holztreppe hoch, um deren Geländer sich geschnitzte Weinreben und Trauben wanden. Das Motiv wiederholte sich in den Kassetten der geschnitzten Tür, die Oliviane oben aufstieß, aber dahinter lag einwandfrei das hübsche Wohnzimmer einer Dame von Geschmack und Wohlstand.
»Setz dich, Engelchen! Du siehst aus, als könntest du einen Becher Gewürzwein vertragen! Gwenna, bringst du uns Wein und eine Kleinigkeit zu essen? Haben sie dich in der Burg hungern lassen? Du siehst immer noch aus wie ein darbender Spatz. Allerdings einer in prächtigen Kleidern. Wie hübsch du aussiehst in diesem Grün ...«
Gwenna schien die Kammerfrau der Gräfin zu sein. Eine stämmige Bretonin mit breiten Hüften und mitfühlenden, blauen Augen. Sie eilte wieder hinaus, und Tiphanie bedachte ihre Gastgeberin mit einem erstaunten Blick.
»Die Dinge haben sich entschieden zum Besseren gewendet für dich, oder täusche ich mich? Hast du dies alles mit dem Stein vollbracht, den Mutter Elissa dir gab?«
»Ja und nein«, entgegnete Oliviane sanft.
Tiphanie entdeckte, dass es nicht mehr der unbeugsame Stolz auf ihre edle Herkunft war, der sie so königlich wirken ließ, sondern die Tatsache, dass sie völlige Harmonie verströmte. Sie kam ihr herzlicher und aufgeschlossener als früher vor.
»Erkläre mir, was dich nach Rennes gebracht hat«, bat sie jetzt vorsichtig. »Ich hatte Angst davor, mir dein Schicksal auszumalen ...«
»Wenn du gemeint hast, dass ich nicht den Mut haben würde, Sainte Anne zu verlassen, dann ist das völlig richtig«, flüsterte Tiphanie. »Ich hab’ mich im Backofen verborgen, bis alles vorbei war ...«
Die Kammerfrau unterbrach die furchtbaren Erinnerungen. Sie schleppte eine dampfende Kanne Wein herbei und ein Tablett, dermaßen überhäuft mit Leckereien, dass es alles darüber verriet, was sie von der zerbrechlichen Erscheinung des Gastes hielt.
»Gwenna war meine Köchin, ehe ich sie zur Haushofmeisterin gemacht habe.« Oliviane lächelte über Tiphanies fassungslose Miene. »Sie kann es nicht lassen, ihre Schäfchen herauszufüttern. Aber sie tut es so köstlich, dass man ihr einfach verzeihen muss. Willst du nicht zugreifen?«
Der Anblick der überreichen Köstlichkeiten verursachte Tiphanie Übelkeit. Der bloße Gedanke, dass sie etwas davon essen sollte, stülpte ihren Magen um, und sie wurde noch blasser, als sie es ohnehin schon war. Die stämmige Bretonin betrachtete sie, ohne ein Wort zu sagen. Sie reagierte erst auf den verstohlenen Wink ihrer Herrin. Sie verließ das kostbar ausgestattete Zimmer mit den schweren geschnitzten Möbeln und überließ es der Gräfin, die Becher zu füllen.
Tiphanie nippte vorsichtig am Gewürzwein und lehnte jede Speise ab. Sie hatte Angst, beides zusammen nicht bei sich behalten zu können. Wie konnte sie auch an Essen denken, während man in der Burg von Rennes vermutlich eben entdeckte, dass sie wieder verschwunden war. Was würde Jannik empfinden. Erleichterung, dass er sie los war? Wut, weil sie ihm nicht gehorcht hatte?
»Du schaust drein, als würden dir alle Plagen Ägyptens auf der Seele liegen«, stellte Oliviane de Sainte Croix trocken fest und streifte den goldenen Stirnreif ab, der einen zarten Schleier auf ihren hoch gesteckten, goldenen Rechten hielt. »Was ist geschehen?«
»Das ist eine lange Geschichte ...«
»Wir haben Zeit ...«
Tiphanie begann zögernd zu berichten, aber nach den ersten Sätzen wurde ihre Stimme sicherer. Sie befreite ihre Seele von den Bildern des Grauens ebenso wie von den wenigen goldüberglänzten Stunden des Glücks. Es tat gut, endlich ohne Vorbehalt alles
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