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Titanic - Wie ich den Untergang ueberlebte

Titanic - Wie ich den Untergang ueberlebte

Titel: Titanic - Wie ich den Untergang ueberlebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Beesley
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sie
sähen das wundervolle Schiff in seiner fürchterlichen Not unter ihnen, und alle
ihre Energien würden geweckt, um Botschaften über das schwarze Himmelsgewölbe
zu senden, von einer Ecke zur anderen, der Welt unter ihnen von dem Unheil zu
künden und davor zu warnen. Später, als die Titanic untergegangen war
und wir ruhig auf der See lagen, die heraufziehende Morgendämmerung erwartend
oder ein ankommendes Schiff, erinnere ich mich daran, wie ich zum perfekten
Himmel aufblickte und verstand, warum Shakespeare solche wunderbaren Worte
schrieb, die er Lorenzo in den Mund legte:
     
    Komm Jessica!
Sieh, wie die Himmelsflur ist eingelegt mit Scheiben lichten Goldes! Auch nicht
der kleinste Kreis, den du da siehst, der nicht im Schwunge wie ein Engel
singt, zum Chor der helläugigen Cherubim.
    So voller
Harmonie sind ew’ge Geister: nur wir, weil dies hinfällige Kleid von Staub ihn
grob umhüllt, wir könnten sie nicht hören.
    [Aus: »Der Kaufmann von
Venedig«, 5. Akt, 1. Szene. Übersetzung aus: William Shakespeare, Sämtliche
Werke]
     
    Aber es sieht so aus, als könnten wir es in dieser
Nacht. Die Sterne sahen wirklich wie lebendig aus und als würden sie sprechen.
Das vollständige Fehlen von Dunst verursachte ein Phänomen, das ich noch nie
gesehen hatte. Dort wo der Himmel die See berührte, war der Horizont so scharf
ausgeprägt wie eine Messerklinge, so daß Wasser und Luft nicht allmählich
verschmolzen und sich sanft an der Trennungslinie trafen. Jedes Element schien
exklusiv getrennt vom anderen, so daß ein tiefstehender Stern, nahe der klaren
Wasserlinie betrachtet, nichts von seiner Leuchtkraft einbüßte. Wenn sich die
Erde weiterdrehte, die Wasserlinie emporwuchs und teilweise die Sterne
bedeckte, so wie jetzt, schnitt sie den Stern entzwei. Die obere Hälfte
leuchtete so lange weiter, bis sie noch nicht ganz verdeckt war, und
schleuderte einen langen Lichtstrahl zu uns über die See. In der Beweisaufnahme
vor dem Untersuchungsausschuß des Senats der Vereinigten Staaten sagte ein
Kapitän einer der in unserer Nähe befindlichen Schiffe aus, daß die Sterne so
außergewöhnlich klar in Horizontnähe leuchteten, daß er sich täuschen ließ und
annahm, es wären Lichter von Schiffen gewesen; er könne sich nicht daran
erinnern, je so etwas gesehen zu haben. Jene auf der See können ihm da nur
zustimmen; wir sind oft darin getäuscht worden und hielten sie für
Schiffslichter.
    Als nächstes
diese kalte Luft! Auch hierin steckte etwas Neues für uns, denn es gab nicht
eine Spur von Wind um uns, als wir im Boot waren, und gerade dieses
fortwährende Fehlen einer Luftbewegung erzeugte in uns das Gefühl der Kälte. Es
war eine beißende, bittere, eisige, bewegungslose Kälte, die aus dem Nichts kam
und die ganze Zeit über andauerte. Die Ruhe, die von ihr ausging – wenn sich
jemand überhaupt eine bewegungslose und ruhige Kälte vorstellen kann – war es,
die uns neu und unbekannt erschien.
    Der Himmel
und die Luft waren über uns, und um uns herum war nichts als Wasser. Auch hier
etwas unbekanntes: die Oberfläche war wie ein Ölsee, freundlich auf- und
abschwingend mit einer langsamen Bewegung, die unser Boot hin- und
herschaukelte. Wir brauchten den Bug nicht in die Wellenrichtung zu drehen, und
ich beobachtete oft, wie es quer zur Wellenrichtung lag, was mit einem
beladenen Boot wie dem unseren bei etwas Seegang unmöglich gewesen wäre. Die
See ging leicht unter unserem Boot hindurch, und ich glaube, wir hörten sie
nicht an unsere Bordwände klatschen, so ölig schien die Konsistenz des Wassers.
Als dann einer der Heizer erwähnte, daß er in 26 Jahren auf See noch nie so
eine ruhige Nacht erlebt hätte, nahmen wir es ohne Kommentar als wahr hin.
Genauso ausdrucksstark war die Bemerkung eines anderen: »Es erinnert mich an
ein verflixtes Picknick!« Es war wohl wahr: ein Picknick auf einem See oder
einem ruhigen Fluß wie dem Cam, oder stromauf an der Themse. Und unter diesen
Bedingungen des Himmels, der Luft und der See lagen wir, Seite an Seite mit der Titanic auf eine kurze Entfernung. Sie lag vollkommen ruhig, und es sah
tatsächlich so aus, als ob der Stoß des Eisbergs ihr die ganze Kraft geraubt
hätte und sie sich jetzt ausruhen müßte und sich zurückzog, ohne eine
Anstrengung zur eigenen Rettung zu unternehmen, ohne Protest einzulegen gegen
diese Gemeinheit. Die See konnte sie nicht durchschütteln, denn kein Wind fegte
um ihre Aufbauten und summte in der Takelage. Das

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