TITLE
der Welt der Lebenden, die unter uns brauste. Auf der Uhr des Klosters St. Antonio schlug die elfte Stunde. Er lag auf seinen Knien vor mir wie ein Schäfer Theokrits oder Geßners und blickte bittend zu mir empor. Wir hatten uns gesagt, daß wir einander liebten, aber ich hatte ihm noch nichts gewährt als die Jungfräulichkeit meines Herzens. Beim letzten Schlage der elften Stunde pflückte ich dieses Blatt. Ich drückte es auf meine Lippen und senkte mein Haupt zu ihm herab. Sein Mund preßte sich auf die andere Seite des Blattes, welches nun noch die einzige Scheidewand zwischen seinen Lippen und den meinigen war. Plötzlich zog ich das Blatt rasch hinweg und unsere Lippen berührten sich. Er stieß einen Schrei aus, als ob ihm ein glühendes Eisen in das Herz gedrungen wäre. Ich sah ihn erbleichen, die Augen schließen und zurücksinken. Ich faßte ihn in meine Arme, ich drückte ihn an mein Herz. Es war an einem schönen Abend des Monats Mai, am siebenten; das Meer glänzte wie ein See von flüssigem Silber. Der Jupiter stand über dem Vesuv, rot, als ob er aus dem Krater desselben emporgestiegen wäre: Ach, armes welkes Blatt! Es sind nun vierzehn Jahre her, daß du gepflückt wurdest, und du siehst gleichwohl, daß ich nichts vergessen habe. Jede dieser Pflanzen oder dieser Blumen ist ein Merkzeichen unserer Liebe und hat seine Geschichte wie dieses Lorbeerblatt. Mit ihnen könnte ich das ganze Gedicht meines Glückes und meiner Jugend wieder zusammensetzen. Dieses Heidekrautreis trug ich in einer Nacht des Wahnsinnes an meiner Seite. Der König hatte ein bevorrechtetes Regiment, welches er seine Liparioten nannte, weil es wenigstens zum größten Teil aus Leuten bestand, welche von den liparischen Inseln stammten. Giuseppe war Kapitän dieses Regiments.Zu jener Zeit ward ich von dem alten Tannucci, der mich verabscheute und den ich verachtete, scharf überwacht und wir konnten uns daher nur unter tausend Gefahren sehen. Ich brachte den König auf die Idee, seinem Regimente ein Fest zu geben. Wir kamen überein, uns zu verkleiden, er sich als Gastwirt, ich mich als Wirtin, und die Offiziere des Regiments zu bedienen. Man schlug zwei riesige Zelte auf. In dem einen präsidierte der König in weißer Mütze mit an dem Gürtel aufgesteckter Küchenschürze und dem Messer an der Seite. Seine Kellner waren die vornehmsten Herren des Hofes. Ich trug das Kostüm der Frauen von Procida, ein rotes Tuch um den Kopf, ein um die Taille herum fest anschließendes gesticktes Mieder, einen kurzen scharlachroten Rock, welcher den untern Teil des Beins unbedeckt ließ, und meine Mägde waren die zwölf vornehmsten Hofdamen. Caramanico setzte sich an eine meiner Tafeln und ich konnte mich mit ihm beschäftigen, indem ich mich zugleich mit den andern beschäftigte. Mit welcher Freude war ich seine Magd. Als er auf die Gesundheit der Königin trank, wußte ich, daß er die Marie Karolinens, aber nicht die der Königin meinte. Ich ging dicht an ihm vorüber, mein Kleid streifte sein Knie, mein Arm seine Schulter. Ich ging unaufhörlich hin und her und hatte stets auf diesem schmalen Wege zu tun, den er mir so schmal als möglich machte. Die Musik gab das Signal zum Tanz. Als einer der ersten Offiziere des Regiments hatte Caramanico das Recht, mich aufzufordern und wir tanzten dreimal miteinander. Er hatte das Bukett gesehen, welches ich am Gürtel trug. Er benutzte einen Augenblick, wo er nicht tanzte, um ein ähnliches zusammenzusetzen. Er gab es mir. Ich gab ihm das meinige. Dies hier ist das seinige– dieses Heidekraut mit wilden Nelken umgeben. Willst du den Brief sehen, den er mir den nächstfolgenden Tag schrieb. Hier ist er– lies!«
Ich nahm den Brief aus den zitternden Händen der Königin und las:
»O meine geliebte Karoline! Nun bin ich wieder aus dem Himmel in die Wüste herabgestürzt, welche man die Erde nennt, wenn du nicht da bist. Ist es ein Traum? Ist es Wirklichkeit? Eine Göttin, Hebe oder Venus, ich weiß nicht welche– beide sind blond, beide sind jung, beide sind schön– hat mir Ambrosia aufgetragen und Nektar kredenzt. O, ich erkannte den göttlichen Trank, denn ich hatte während unserer ganzen letzten Nacht von deinen Lippen getrunken und dieser war nochberauschender als der, welchen Du gestern gereicht. Denke nur eins, meine geliebte Karoline, aber denke daran mit Deinem Geiste, mit Deinem Herzen, mit allem, was Gott an Liebe in Dich gelegt hat – denke daran, mir eine Nacht zu schenken, eine
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