Tochter der Insel - Historischer Roman
bei dir und Papiere?«
Bell hob die Röcke und Lea sah staunend auf eingenähte Taschen, die sich gut bepackt nach außen wölbten. »In meinem Beruf ist es gut, alles direkt am Körper zu tragen. Etwas Geld kann ich dir bieten und will auch gerne meinen Schmuck und das Kleid versetzen. Meine Papiere sind in Ordnung. Sie lauten auf den Namen Frieda Ernstmann.«
»Na, dieser Name passt aber ganz und gar nicht zu dir.«
»Was willst du? Er ist alteingesessen. Mein Vater war Bankdirektor und ging mit meiner Mutter jeden Sonntag in die Kirche. Alle meine Geschwister haben seriöse Berufe und machen meinen Eltern Ehre. Nur ich, das jüngste von acht Kindern, fiel aus dem Rahmen. Man versuchte allerhand, doch die meisten Schulen wollten mich nicht. Schließlich landete ich bei der vornehmen Kamilla Kornbach im Institut für höhergestellte Damen. Dort habe ich gelernt, richtig zu gehen und zu stehen und natürlich Haltung zu bewahren in allen Lebenslagen. Wohl hundertmal hat die alte Ziege uns mit einem Buch auf dem Kopf die steilen Treppen des Hauses rauf und runter gejagt.«
Bell schilderte die Mühen so anschaulich und ahmte die Lehrerinnen so gekonnt nach, dass Lea lachen musste.
»Wie ist es nur möglich, dass du all das überstanden hast, ohne tatsächlich eine steife Dame zu werden?«
»Ganz ohne Anstrengung war es nicht. Denn du kannst dir denken, dass ich mich zur Wehr setzte. Immer hieß es: ›Frieda, benimm dich. Lauf nicht so schnell, das ist nicht schicklich. Und das laute Lachen hören wir auch nicht gern.‹ Manchmal kniff ich mir in die Wangen und bemalte mir die Lippen, nur um die altjüngferlichen Lehrerinnen aufzubringen. Sie sprachen von der Ungeheuerlichkeit, sich wie eine der liederlichen Schauspielerinnen zu benehmen. Und damit war die Idee aus der Taufe gehoben. Schauspielerin! Ich träumte nachts davon, eine zu sein und all das zu tun, was mir im Institut verwehrt wurde. Vielleicht hätte es geholfen, wenn die Damen uns Sinnvolles gelehrt hätten, aber wir wurden mit Nichtigkeiten vollgestopft wie Weihnachtsgänse. Ich konnte es schließlich nicht mehr ertragen und deshalb verschwand ich heimlich.«
»Du bist weggelaufen?«
»Richtig. Ich versteckte mich bei einer Theatervorstellung unter den Zuschauern und schloss mich dann heimlich der aufführenden Truppe an, die von Stadt zu Stadt zog. Damals war ich fünfzehn Jahre alt und wollte um nichts in der Welt zurück zu Kamilla Kornbach, aber auch nicht zu meinen Eltern. Und so nahmen Christines Leute mich auf. Ich wurde Teil einer großen Familie. Leo der Löwe, stärkster Mann der Welt, brachte mir das Kartenspielen bei. Von der Dame Linda wurde ich in Gesang und Klavierspiel ausgebildet und Loretta, die Tänzerin, schließlich, brachte mir noch ganz andere Dinge bei.« Leas aufgerissene Augen ließen Bell innehalten.
»Doch davon ein anderes Mal mehr. Ich war glücklich, viele Jahre lang. Doch leider musste ich die Truppe nach dem Mord verlassen. Ich habe mich eine Zeit lang versteckt und glaubte, dass jetzt endlich Gras über die Sache gewachsen sei. Außerdem ging mir auch das Geld aus. Deshalb wagte ich es vor einigen Wochen erstmals wieder, unter einem neuen Namen aufzutreten. Ich finde, Bell passt sehr gut zu mir.« Sie klimperte kokett mit den Wimpern.
»Unglaublich gut.« Lea lachte. Dann wurde sie unvermittelt wieder ernst. »Weißt du, Bell, ich glaube wirklich, dass du mit mir ausreisen solltest. Und mir ist auch eingefallen, wie wir das bewerkstelligen können.« Lea wies auf die Holzkiste. »War es sehr unbequem, dort drinnen?«
»Oh, du meinst doch nicht etwa … «
»Doch! Vielleicht beschweren sich die Männer morgen über das schwere Gepäck, aber gegen einen zusätzlichen Obolus werden sie die Kiste sicher zur Droschke tragen.«
»Sie werden glauben, dass du Wackersteine mit nach Amerika nehmen möchtest.« Bell klopfte bezeichnend auf ihr wohlgerundetes Hinterteil.
Die Frauen lachten, und eine nie gekannte Unbeschwertheit erfasste Lea. Das Gefühl von abgrundtiefer Einsamkeit verlor sich. Die neue Freundschaft ließ ihre dunklen Gedanken dahinschmelzen und die bevorstehende lange Reise wie ein großes Abenteuer erscheinen.
2
B eim Auswandererbüro herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Menschen drängten sich mit Koffern, Kisten und Säcken aneinander vorbei. Lange Schlangen hatten sich vor dem Fahrkartenschalter gebildet. Vielleicht lag es daran, dass heute einige Weserkähne Richtung Bremerhaven fuhren.
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