Tochter der Insel - Historischer Roman
Lea trat einen Schritt zurück und musterte die Freundin ungläubig.
Bell sah aus wie eine ganz gewöhnliche Landarbeiterfrau. Ihr schien nur noch ein Kind an der Hand zu fehlen. Sie trug ein schwarzblaues hochgeschlossenes Wollkleid mit hellem Kragen. Selbst der letzte Knopf war geschlossen. Ein dunkles Tuch lag um ihre Schultern. Die Füße steckten in derben Schuhen, und das Haar trug sie als hellen Kranz um den Kopf geschlungen.
»Im Verkleiden bin ich gut.« Zufrieden griff Bell nach ihrem neuen Reisekoffer. »Den Mädchen am Hafen war meine Robe einiges wert, und den Schmuck habe ich auch zu einem ordentlichen Preis verkauft. So ist nun für das neue Leben sogar noch ein wenig Anfangskapital übrig.« Sie hakte Lea mit der freien Hand unter. »Komm, wir müssen aufs Schiff.«
Dichter Nebel hüllte den Weserkahn ein, der sich langsam seinem Ziel näherte. Die Welt um sie her war still, und nur das gelegentliche Schlagen der Segel im Wind durchbrach die Reglosigkeit. Die Passagiere standen an der Reling und beobachteten schweigend den Landungsplatz. Langsam durchbrachen die ersten Sonnenstrahlen das Grau. Ein Raunen ging durch die Menge, als der Umriss des Auswandererhauses wie ein riesiges Ungeheuer vor ihnen auftauchte.
Gesprächsfetzen in den unterschiedlichsten Sprachen klangen zu Lea herüber. Seeleute schrien, Händler priesen Waren an, Auswanderer saßen auf gepackten Kisten und Körben und unterhielten sich.
Neben ihr pfiff Bell fröhlich durch die Zähne. Ihr hatten die langen Stunden an Bord und die notdürftigen Unterbringungen an Land nichts ausgemacht. Niemals hätte Lea vermutet, dass Bell sich so schnell einer veränderten Situation anpassen konnte. Vor einigen Tagen noch die elegant gekleidete, mit Schmuck behangene Dame und heute nun eine Frau, die sich mit den schlichtesten Unterkünften und dem einfachsten Essen zufriedengab.
Bell zeigte auf die Menschenmenge am Hafen. »Sieh nur die vielen verschiedenen Volkstrachten.«
Hellgrüne Röcke blitzten durch den Nebel und rote Kopftücher. Einige Mädchen trugen Hauben, die mit langen Bändern geschmückt waren.
Diese Menschen sind hier Fremde, genau wie ich. Jeder von ihnen hat seine eigene Geschichte. Sie alle haben sich auf den Weg gemacht und verlassen ihr Zuhause, ging es Lea wehmütig durch den Kopf.
Sie forschte in den Gesichtern der Wartenden, die jetzt deutlicher zu erkennen waren. Tränenschwere Blicke trafen sie, und sie sah schmerzvoll verzerrte Züge.
Ihr selbst war es, als habe sie die Insel Wangerooge schon weit hinter sich gelassen. In Gedanken war sie längst auf dem Weg nach Amerika.
3
B ell und Lea waren in einem der letzten Fährboote, die die Auswanderer zum Segelschiff brachten.
»Da ist es, schau nur«, hauchte Lea ergriffen, als die Mary-Ann in Sicht kam.
Das Schiff war selbst mit aufgerollten Segeln in seiner Größe ehrfurchteinflößend.
»Mein Gott, sieht das gefährlich aus.« Bell deutete auf einen Seemann, der sich hoch über ihren Köpfen in einer Affenschaukel aus Tauen hin und her hangelte.
Das Einsteigen der Zwischendeckpassagiere überwachte ein Schiffsoffizier. Nachdem ihre Namen auf einer Liste abgehakt worden waren, führte ein Matrose sie eine steile Treppe hinunter, in einen großen, dunklen Raum, der in schmale Gänge unterteilt war. Über die gesamte Länge erstreckten sich dreistöckige Kojen aus Holz. Öllampen an den Wänden spendeten ein flackerndes Licht. Der Matrose schob sie in eine Kabine, die durch eine dünne Holzwand von den anderen getrennt war.
Bell schaute sich in der winzigen Koje um. »Herrje, was für ein Heringsfass. Aber wir können uns immer noch glücklich schätzen, eine Kabine für uns alleine zu haben.«
»Es gibt sogar ein Fenster hier.« Lea blickte zu dem winzigen Bullauge an der rechten Seite der Kajüte.
Nachdem sie sich eingerichtet hatten, gingen die Frauen an Deck, um das Ablegen des Schiffes nicht zu verpassen.
»Hagius, bringen Sie mich zu den beiden Damen, die in der Doppelkabine auf dem Zwischendeck einquartiert sind«, hörte Lea jemanden hinter sich sagen.
»Wir sind hier«, rief Bell.
Ein großer grauhaariger Mann mit Backenbart streckte ihnen die Hand entgegen. »Herzlich willkommen an Bord, meine Damen. Mein Name ist Petersen. Ich bin der Kapitän. Herr Behrends, der Leiter des Auswandererbüros, hat mich über Ihren großzügigen Verzicht informiert. Hagius, mein Erster Schiffsoffizier, ist mir persönlich dafür verantwortlich, dass es Ihnen
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