Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
ließ ihn frösteln.
»Wohin gehen sie, wenn sie sterben?«
Julian zuckte mit den Schultern. »Ich hatte nie den Ehrgeiz, das zu erforschen. Und die Menschen selbst vertreten verschiedenste Vorstellungen. Ich hörte und sah auch schon mit eigenen Augen, wie sie deshalb sogar Kriege führten und führen. Religion nennen sie das.«
Darran sah ihn prüfend an.
»Was wir besitzen«, sagte Julian langsam, als würde er nur sehr widerwillig seine eigenen Erkenntnisse wiedergeben, »ist lediglich der Gedanke eines Körpers. Eine Erinnerung daran.«
Darran hob die Augenbrauen.
Julian zuckte mit den Schultern, ohne zu ahnen, wie sehr er Darran – oder den Menschen – mit dieser Geste ähnelte. »Es ist gefährlich, darüber nachzudenken. Tatsache ist: Wir leben in einer Zwischenwelt. Für uns gibt es keine Zeit, kein Leben als solches. Und unsere Körper sind nicht echt.«
»Nicht echt? Aber ich spüre ihn doch! So wie ich weiß, dass ich existiere!« Darran vergaß, der alten Frau auszuweichen. Diese schob, wie zur Bestätigung von Julians Worten, ächzend ihren Rollator durch ihn hindurch. Er wich aus, sie streifte ihn jedoch und blieb erschrocken stehen. Sie blickte um sich, dann schlug sie ein Kreuzzeichen, atmete tief durch und ging weiter. Er sah ihr schuldbewusst nach. Sehr alte Menschen reagierten manchmal so auf ihn. »Der Todesengel hat mich berührt«, hatte einmal eine alte Frau zu ihrer Enkelin gesagt. Diese Worte hatten Darran gepeinigt. Er brachte den Tod, aber nicht diesen Menschen, die sich oft nur noch mit Verzweiflung und ungeahnter Willenskraft am Leben festhielten.
Julian bewegte unbehaglich die Schultern. »Das solltest du gar nicht. Das ist nicht normal.«
Er sah und spürte Gabriella. Und sie fühlte ihn. Ein Schauder lief über seinen Körper. Angenehm und beängstigend zugleich, wie etwas Verbotenes und doch Reizvolles. Und zugleich wie ein Widerhall von … Ja, wovon? Etwas, das er nicht fassen konnte, das aber, tief in seinem Bewusstsein verborgen, existierte.
Ein Pärchen kam vorüber, eng umschlugen. Darran fühlte sich körperlich krank, wenn er daran dachte, Gabriella könnte sich einem anderen zuwenden. Eine düstere Vision zeigte ein mieses Exemplar männlicher Materie, das an ihre Tür klopfte, bis sie ihn hereinzog. Wie sich seine Arme um sie legten. Er sie küsste, berührte, hielt. Ein Mann aus Fleisch und Blut. Gegen den er keine Chance hatte.
Er starrte so lange auf die beiden Verliebten, die Hände zu Fäusten geballt, bis er eine vage Berührung fühlte. Er wandte den Kopf. Julian stand kopfschüttelnd vor ihm.
»Hör auf damit. Du hast deine Gefühle nicht mehr unter Kontrolle. Beherrsche sie, ehe die anderen etwas davon merken.«
Jetzt erst spürte er die fremde, körperliche Beklommenheit. Der Druck in seiner Kehle und auf seiner Brust lockerte sich, als er tief durchatmete. »Und du? Fühlst du nie etwas?«
»Nicht wie du. Und ganz gewiss nicht für eine Frau.« In Julians Stimme schwang eine ungewohnte Härte und sogar Verachtung mit. Er hatte noch nicht einmal ausgesprochen, da war Darran schon herumgewirbelt, als wolle er sich auf seinen Freund stürzen. Julian nahm sofort unbewusst eine Abwehrhaltung ein.
»Du weißt von ihr? Hast du mich verfolgt?«
Julian lachte kurz auf. »Als ob es da etwas zu verfolgen gäbe. Wenn du ihr nachläufst wie einer dieser Hunde dort«, er deutete auf einen wohlbeleibten, kurzbeinigen Hund, der seinem Frauchen hinterherschnaufte, »dann siehst du deine Umgebung nicht mehr. Du bist in ihrer Begleitung zweimal an mir vorbeigerannt, konntest mich jedoch nicht bemerken, da du nur Augen und Ohren für diese Frau hattest! Wie ein Süchtiger! Darran«, er machte eine Bewegung, als wolle er Darran packen, ließ dann jedoch die Hände sinken, »ich warne dich, sei vorsichtig. Was du hier tust, ist kein Spiel mit dem Feuer mehr, wie die Menschen dazu sagen würden, sondern schon ein Tanz auf einem Vulkan.«
Ein abermaliges Frösteln erfasste Darran. Als wäre es um ihn herum kalt geworden. Es war nicht das erste Mal. Aber noch nie hatte er das in dieser Intensität gespürt. Es war ungewohnt, sehr körperlich.
»Das kann ich nicht«, sagte er gedankenverloren. »Ich habe das Gefühl, sie beschützen zu müssen.«
»Beschützen? Vor wem …?« Julian unterbrach sich, hob den Kopf und lauschte.
»Wir werden gerufen«, sagte Darran mit einer Stimme, die in seinen eigenen Ohren fremd klang.
Julian wandte sich zum Gehen. »Wenn du klug
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