Tochter der Träume / Roman
Sachen, die ich dir leihen kann. Sind vielleicht ein bisschen groß, aber dann kannst du dich wenigstens gut bewegen.«
Weil er sich so großzügig zeigte und ich wirklich alle Hilfe brauchte, die ich bekommen konnte, willigte ich ein und folgte ihm ins Haus.
Im Dojo war es warm, und es roch leicht muffig, als wäre der Trainingsraum ein paar Tage lang unbenutzt geblieben. Noah war nach unserem kleinen … Knatsch? Streit? … wohl nicht mehr da gewesen. Doch daran wollte ich jetzt nicht denken. Nicht an Noah, nicht an seine Lippen, seine Augen oder sonst irgendetwas, das mit ihm zusammenhing. Und ich wollte auch nicht daran denken, was Karatos mit ihm vorhatte. Doch ich musste ihn dringend warnen. Und wenn ich ihn heute nicht mehr persönlich antraf, dann musste ich ihn eben später anrufen und ihm notfalls eine Nachricht hinterlassen.
Hoffentlich würde seine Wut auf mich seine Urteilskraft nicht vernebeln.
Warren drückte mir die versprochenen Kleidungsstücke in die Hand und ging sich umziehen. Ich verzog mich ebenfalls in die Frauenumkleidekabine und schlüpfte in ein übergroßes Sweatshirt, das mir bis über die Hüften hing, und eine Jogginghose, die ich zweimal umkrempeln musste. Warren war gut fünfzehn Zentimeter größer als ich und ein gutes Stück breiter – eine Tatsache, die bewirkte, dass ich ihn erst recht mochte.
Offensichtlich fühlte ich mich zum falschen Bruder hingezogen. Warren würde sehr viel besser zu mir passen – nicht so sprunghaft (wovon ich einfach mal ausging) und groß genug, dass ich mir neben ihm klein und zierlich vorkam. Nur leider weckte er in mir nicht dieses prickelnde Gefühl wie Noah. Und außerdem fing mein Herz beim Gedanken an Warren nicht an zu pochen, wie es jedes Mal geschah, wenn ich an Noah, diesen Trottel, dachte.
Ich saß auf einer Matte an der Stirnwand des Übungsraums, während Warrens Schüler langsam eintrudelten, manche allein, manche in kleinen Grüppchen, Jungen und Mädchen aller Größen und Hautfarben, alle zwischen zwölf und vierzehn Jahren alt. Sie hatten Akne oder trugen Zahnspangen, oder beides, und ihre Hormone spielten derart verrückt, dass es mir fast für sie peinlich war. Ich erinnerte mich noch sehr gut an dieses Alter, daran, wie unwohl ich mich damals in meiner Haut gefühlt hatte und mich am liebsten hinter mir selbst versteckt hätte.
Ein pummeliges Mädchen stand etwas abseits der anderen, die sportlicher und selbstbewusster waren. Am liebsten wäre ich zu ihr gegangen und hätte ihr gesagt, dass sie viel hübscher war als all die anderen Mädchen, dass sie es eines Tages noch allen zeigen würde. Aber da ich ihr dafür natürlich keine Garantie bieten konnte, blieb ich auf meiner Matte sitzen.
Warren stellte mich als eine Freundin vor, die ihm heute bei der Demonstration von Positionen und Bewegungen assistieren würde. Es war völlig offensichtlich, dass alle dachten, ich sei Warrens Freundin, insbesondere die Jungs. Aber auch einige Mädchen, besonders die, die sich offenbar in ihren Lehrer verliebt hatten, maßen mich mit funkelnden Augen.
Die meiste Zeit über schaute ich nur zu. Für seine Demonstrationen hätte Warren auch einfach einen seiner Schüler nehmen können, anstatt einen unerfahrenen Laien wie mich. Aber ich wusste es sehr zu schätzen, dass er mich in das Training integrieren wollte.
Nachdem der Kurs beendet und alle Kinder gegangen waren, zeigte mir Warren ein paar neue Schritte und trainierte auch welche mit mir, die Noah mir bereits beigebracht hatte. Ich schwitzte, war müde und lachte gerade über einen Scherz von Warren, als plötzlich die Tür aufflog.
Noah. In Stiefeln kam er auf uns zugestapft und schlug dabei etliche neue Macken in den abgenutzten Holzfußboden, während er seinen Blick stur auf mich geheftet hielt und ich ebenfalls unfähig war, meine Augen von ihm abzuwenden. Es war wie im Film.
»Oh, da fällt mir ein, dass im Büro noch Arbeit auf mich wartet«, bemerkte Warren plötzlich. »Dawn, schön, dass du hier warst. Und Noah, falls du nach mir gehen solltest, dann sperr alles ab.«
Und damit war mein Lehrmeister weg, und ich blieb allein mit einem reißenden Wolf zurück.
»Was hast du hier zu suchen?«, herrschte er mich an. Er stand dicht vor mir, die Hände in den Hosentaschen seiner Jeans. Seine Lederjacke stand offen und gab den Blick auf ein verblichenes, graues T-Shirt frei.
»Mich an deinen Bruder ranmachen«, antwortete ich spitz, denn sein Ton gefiel mir ganz und
Weitere Kostenlose Bücher