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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Julia Kröhn
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und mehr als einmal war Runa versucht, Ingunn doch beim Nähen zur Hand zu gehen. Dann jedoch nahm sie ihr Messer und begann, von dem Mädchen misstrauisch beäugt, zu schnitzen. Bald zierten Runen und Ornamente die hölzernen Balken der Kammer.
    Oft lugte Runa auch durch die Dachspalten nach draußen. Manchmal, wenn die See stürmisch war, tropfte es kalt von dort herunter. Die Holzbalken knackten, der Boden schaukelte, und sie kämpfte mit der Übelkeit. Dann wieder herrschte Flaute, und das Schiff kam nur dank seiner Ruder, nicht seines Segels voran.
    Die Männer wurden von Tag zu Tag grimmiger. Obwohl ihre Lederkleidung in Öl getränkt war, hielt sie der Feuchtigkeit - Regen und Spritzwasser - nicht stand. Selbst Runa, obwohl von einem Dach geschützt, vermeinte an regnerischen Tagen, nie wieder Trockenheit spüren und nie wieder die Haut vom juckenden Salz reinwaschen zu können. Auf dem Schiff ließ sich kein Feuer machen, sodass es nur Dörrfleisch gab, das Tag für Tag weniger und zäher wurde. Das Wasser schmeckte so abgestanden, dass sie es bald nicht mehr trinken konnte und den Durst mit Met stillen musste. Den, den die Großmutter gebraut hatte, hatte Runa gut vertragen - von diesem nun, vielleicht aber auch nur von der Eintönigkeit der Reise, bekam sie Kopfweh.
    Tagsüber schwitzte sie unter der oft brütenden Sonne, nachts zitterte sie vor Eiseskälte. Die Männer schliefen zu zweit in einem Schlafsack, der halbwegs warm hielt. Ingunn lud sie ein, zu ihr zu schlüpfen. In der ersten Nacht verweigerte es Runa. In der zweiten gab sie weniger der Kälte nach als dem Mitleid mit dem bebenden Mädchen. Ingunn traf keine Schuld an ihrem Geschick, und überdies tat es gut, jemanden zu halten, einen fremden Atem auf dem eigenen Gesicht zu spüren und zu wissen, dass sie nicht allein auf der Welt war. An Ingunns Seite schlief sie ohne die finsteren Träume, die sie immer wieder heimsuchten - Träume, in denen sich die Großmutter mit blutendem Mund erhob und wie die Kuh vor der Schlachtung schrie.
    Der Vater hielt sich von ihr fern, seit Runa sich die Haare geschnitten hatte. Sie erwartete, dass das Schweigen bis zu dem Tag andauerte, da sie im Nordmännerland anlegten, doch eines Abends kam er in die Kammer gekrochen. Er verscheuchte Ingunn mit knapper, unwilliger Geste. Runa hätte sie gern zurückgehalten, wusste sie doch mittlerweile, dass das Mädchen die Männer fürchtete und dass Thures Blick, der selbst Runa unheimlich war, sie tief verstörte. Doch Ingunn gehorchte Runolfr, ehe Runa etwas sagen konnte.
    Schwerfällig ließ der Vater sich neben sie fallen. Während der Fahrt hatte sie sich nicht nur geweigert, mit ihm zu reden, sondern ihn auch nie angesehen. So eng wie der Raum war, blieb ihr nun nichts anderes übrig, als ihn zu mustern. Der Bart war etwas gewachsen, das Haupthaar auch, beides war vom Salz verkrustet und so schief geschnitten wie ihre schwarzen Strähnen. Der Lederumhang klebte auf seinen Armen wie eine zweite, lästige Haut; die Lippen waren vor Trockenheit weiß und das Gesicht vom scharfen Wind gerötet. Bläuliche Äderchen auf der wuchtigen Nase verrieten, dass er zu viel getrunken hatte - und offenbar war er auch jetzt nicht willens, damit aufzuhören.
    »Hier!«, rief er.
    Anstelle eines Humpen Mets warf er einen Weinschlauch vor ihre Füße. Dieser gab gluckernde Geräusche von sich, als er vom Schiff hin und her geschaukelt wurde, und der rote Tropfen, der austrat, erinnerte sie an Blut.
    Runa schüttelte nur den Kopf.
    »Sauf, Mädchen! Das wird dir guttun!«
    Wieder schüttelte sie den Kopf.
    Drohend hob Runolfr die Hände, zum Zeichen, dass er ihr den Wein notfalls gewaltsam einflößen würde, wenn sie sich weiterhin bockig gab, und da erst redete Runa wieder mit ihm.
    »Willst du mich schlagen?«, fragte sie kühl. »So wie du Großmutter geschlagen hast? Willst du mich vielleicht sogar töten wie sie?«
    Runolfr ließ nicht nur die Hand sinken, sondern auch den Kopf. Sämtliche Kraft schien aus seinen Gliedern zu weichen, als wären sie nicht mit Fleisch und Blut gefüllt, sondern wie der Schlauch mit Wein. Regelrecht zu schrumpfen schien er.
    »Du bist mein Mädchen, Runa, du bist doch Aesas Tochter. Wie sollte ich dir etwas zuleide tun können?« Seine Stimme klang hoch und verzagt wie die einer Frau.
    Das Mitleid, das in ihr aufstieg, konnte Runa schlucken, nicht jedoch die Erinnerung, die darauf folgte. Sie sah sich selbst, wie sie als kleines Mädchen auf seinen
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