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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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Knien gehockt und durch diesen Bart gefahren war, damals noch dicht und weich. Kurz war ihr, als könnte sie nicht nur seine Stimme vernehmen, freudiger und kräftiger, sondern auch den Singsang ihrer Mutter. Später hatte es ihre Großmutter getan, doch in den ersten Lebensjahren war es Aesa gewesen, die ihr Geschichten von den Göttern und den Helden erzählt hatte.
    »Ich will, dass du ein gutes Leben hast«, murmelte Runolfr.
    »Dann bring mich zurück.« Sie hatte schroff klingen wollen, doch heraus kam ein flehentlicher, zittriger Ton.
    »Es ist zu spät, Runa. Und versteh doch! Dort im Norden des Frankenreichs - dort liegt unsere Zukunft.«
    »Meine nicht«, erwiderte sie knapp.
    Sie wollte noch etwas hinzusetzen, aber begriff, dass sie mit Trotz nicht weiterkam, und auch, dass Wut und Verbitterung ihr während der eintönigen Tage abhandengekommen waren. Plötzlich war es leicht, zum Vater zu kriechen, die schmale Hand auf seine Pranke zu legen, ihn dazu zu bewegen, sie anzusehen.
    »Bitte, Vater«, flehte sie. »Wenn dir mein Wohl am Herzen liegt, dann bring mich zurück!«
    Er starrte sie an, ratlos und zerrissen. Während sein Körper immer schlaffer wurde, war jede Faser des ihrigen gespannt, als sie seiner Antwort harrte. Anstatt sie zu erlösen und endlich etwas zu sagen, griff er nach dem Weinschlauch, schnürte ihn auf und schüttete das Gesöff in sich hinein.
    »Bitte, Vater«, wiederholte Runa, »bring mich zurück.«
    Als er sie ansah, war sein Blick glasig. Rot war sein Gesicht schon zuvor gewesen, nun breiteten sich dunkle Flecken auf der Haut aus. Er rülpste, fiel dann schwer wie ein Stein zur Seite. Sie glaubte, er würde gleich zu schnarchen beginnen, doch stattdessen begann er zu murmeln.
    »Es ist zu spät. Vor einer Weile haben wir einen Raben ausgesendet, und als er zurückkam, trug er einen grünen Zweig im Schnabel. Dort vorne kannst du schon die Küste sehen. Die Küste deiner künftigen Heimat.«
    Er hob die Hand, deutete in eine Richtung.
    Runas Blick folgte ihr nicht.
    Es ist nicht meine Heimat, wollte sie sagen, aber da begann seine Hand zu zittern und sich dann zu einer Faust zu verkrampfen. Ein Ächzen ertönte plötzlich aus dem schwerfälligen Leib, schwoll zu einem Schrei an, röhrend wie der eines brünstigen Hirsches. Runa sprang auf und schlug sich den Kopf an der niedrigen Decke an.
    »Vater!«
    Sein Gesicht war nun so rot, als würde es platzen, die Augen, eben noch zu Schlitzen verzogen, schienen überzuquellen.
    »Vater, was ist mit dir?«
    Er klopfte mit der Faust auf seine Brust, als hockte dort ein wildes Tier, das er töten musste, wollte er weiterleben. Doch das Tier entkam ihm, drehte sich behände im Kreis, und jede Bewegung schien ihm unendlichen Schmerz zu bereiten. Er japste nach Luft. Die Farbe des Gesichts wandelte sich von Rot in Blau.
    »Runa ...«
    Noch mehr wollte er sagen, doch jede Silbe wurde vom Röcheln verschluckt. Weißer Schaum trat ihm vor den Mund. Krämpfe schüttelten Runolfrs Glieder, ebbten plötzlich ab. Die Arme fielen auf den Boden, danach regte er sich nicht mehr. Sämtliches Leben war aus dem aufgedunsenen Leib gewichen.
    Runa kniete bei ihrem Vater und hörte Thure nicht kommen. Mit lautlosen Schritten und geschmeidig wie eine Wildkatze war er in den kleinen Raum gekrochen. Er hockte schon dicht neben ihr, als sie herumfuhr und in seine Augen blickte, die jetzt nicht grau waren, sondern von kaltem Gelb.
    »So schnell?«, raunte er, bückte sich über ihren Vater und musterte ihn eingehend. Kein Entsetzen stand in seinen Zügen, nur waches, ehrliches Interesse.
    Verständnislos starrte Runa Thure an, konnte eine Weile nichts tun, als stumm neben ihm zu hocken. Erst nach einer Weile wurden ihre Gedanken von einer jähen Erkenntnis aufgescheucht.
    Er ist nicht überrascht, dass Vater tot ist. Er hat seinen Tod erwartet. Laut aussprechen konnte sie den Verdacht nicht.
    So wie ihr Hast und Panik fehlten, so seelenruhig griff Thure nach dem leeren Weinschlauch, schüttelte ihn leicht und roch daran, als entströmte ihm der liebliche Geruch von Frühlingsblumen.
    »Ich war mir nicht sicher, ob es zu viel oder zu wenig war«, begann er. »Zu viel wäre recht gewesen, denn noch toter als tot kann man nicht sein. Aber hätte ich zu wenig genommen, so hätte mich das in Schwierigkeiten gebracht.« Er lachte auf.
    »Was ... was ...«
    Die Kammer schien Runa nie so eng und klein gewesen zu sein wie in diesem Augenblick. Kurz vermeinte sie, die

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