Tochter des Ratsherrn
ein Vater nur wünschen konnte: aufgeweckt, höflich und klug in seinen Worten. Es hatte keinen Sinn, es zu leugnen: Johann hatte ihn sofort in sein Herz geschlossen. Als er sich am Morgen nach ihrer Begegnung auf dem Hof Hildegards von Horborg von ihm hatte trennen müssen, war ein so heftiger Abschiedsschmerz über ihn gekommen, wie er ihn bisher nur von seinen Zusammenkünften mit Runa kannte. Dieser Schmerz bestätigte noch einmal das, was ohnehin außer Frage stand: Thymmo war sein eigen Fleisch und Blut!
»Schinkel, nun kommt schon her, oder wollt Ihr die Bursprake etwa von dort aus erleben?« Willekin Aios winkte Johann unwirsch herbei. Nur schwerfällig erhob sich dieser vom Ratsgestühl und trat neben den Bürgermeister ans geöffnete Fenster. Von hier aus konnte er weit über die Häupter der Versammelten schauen, die erwartungsvoll zu den hohen Herren der Stadt hinaufblickten. Es war ein wahrlich erstaunlicher Anblick – Hamburg schien täglich mehr Bürger zu bekommen.
Neben ihnen, an einem anderen Fenster, stand Graf Gerhard II. mit seinen Brüdern Adolf VI. und Heinrich I., umringt von ihren Gefolgsleuten. Wiederum daneben hatten sich die übrigen Ratsherren an den Fenstern eingefunden.
Obwohl der St. Veitsmarkt kurz bevorstand, waren die anderen beiden der fünf regierenden Schauenburger Grafen, Johann II. und Adolf V., noch nicht in der Stadt eingetroffen.
Es war demnach fraglich, ob die Bursprake als Machtdemonstration der Stadt und gleichzeitig als Demonstration der Überflüssigkeit zweier weiterer Vögte seine wahre Wirkung auch erfüllte, doch zumindest Gerhard II. und seine Brüder waren der Einladung zur Bürgerversammlung gefolgt. Alles Weitere würde sich zeigen.
Vor den Fenstern der Ratsherren und Fürsten wurde angeregt geredet und debattiert. Die Themen, die auf der Bursprake besprochen werden sollten, waren schon lange an der Wand des Rathauses angeschlagen worden, und so wusste jedermann schon seit Tagen, worum es auf dieser Versammlung gehen sollte. Diejenigen, die lesen konnten, erzählten es denen, die sich auf diese Kunst nicht verstanden, auf dass sich die Kunde in der Stadt verbreitete. Leider hatte diese Art der mündlichen Überlieferung den Nachteil, dass die Mitteilungen nicht selten immer mehr verfälscht wurden. Aus einer Hexe wurden so leicht drei und aus Giftmischerei womöglich gar Beischlaf mit dem Teufel höchstpersönlich. Doch das war nicht weiter von Belang. Klar war nur: Das Böse zog den Pöbel an wie die Scheiße die Fliegen. Allein das Wort »Hexe« hatte ausgereicht, um so viele herzulocken wie selten zuvor.
Schließlich gab Willekin Aios ein Handzeichen, auf dass die Münder der vielen Hamburger nach und nach verstummten. Als endlich Ruhe eingekehrt war, nickte er einem Ratssekretär zu, der nun ein Papier vor die Augen hob und sein Wort an die Menge richtete.
»Gute Bürger der Stadt Hamburg …« Seine Worte prasselten nur so auf die Versammelten herab, doch kaum einer schenkte den immer gleichen Bestimmungen des Rates an die Bürger, welche den unvermeidlichen Pflichtteil der Zusammenkunft bildeten, Beachtung. Hin und wieder machte der Sekretär eine kurze Pause, um möglichen Widerspruch vonseiten der Bürger abzuwarten, doch heute hätte es an ein Wunder gegrenzt, wenn einer der Männer oder Frauen etwas dazwischengerufen hätte. Die Hamburger, denen die Bestimmungen wohl bekannt waren, wollten möglichst schnell zu dem Teil kommen, der ihr wahres Interesse geweckt hatte – die Hexe!
Endlich war es so weit.
»Der Rat der Stadt Hamburg bittet euch nun, über das Schicksal der Dame Runa von Sandstedt zu entscheiden, die wegen der Anschuldigung, eine Hexe zu sein, im Verlies der Stadt sitzt«, verkündete der Sekretär.
Nach dieser Aufforderung trat der Schmiedemeister Curland vor. Er gehörte dem Weisenrat der Wittigesten an, welcher die Interessen der Bürger vertrat, die sich nicht in den Rat wählen lassen konnten. Schon Tage zuvor hatten die Hamburger zu ihm und den übrigen Wittigesten kommen können, um von ihren Erfahrungen mit der vermeintlichen Hexe zu berichten und so über ihr Schicksal mitzuentscheiden. Nun war es an Curland, die gesammelten Bürgerentscheide dem Rat vorzutragen.
Johann sah hinunter und trat dabei gefährlich nahe an das offene Rathausfenster heran. Gebannt verfolgte er, wie der beleibte Schmiedemeister aus der Menge trat. Des Ratsnotars Finger legten sich fahrig um die Fensterkante und umkrallten sie so fest, dass es
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